Splendor patris et figura

Adam von Sankt Viktor (* um 1100 - 1192)

Lateinisch:

Splendor patris et figura
Se conformans homini
Potestate, non natura,
Partum dedit virgini.

Adam vetus
Tandem lætus
Novum promat canticum;
Fugitivus
Et captivus
Prodeat in publicum.

Eva luctum,
Vitæ fructum
Virgo gaudens edidit
Nec sigillum
Propter illum
Castitatis perdidit.

Si crystallus sit humecta
Atque soli sit obiecta,
Scintillat igniculum;
Nec crystallus rumpitur,
Nec in partu solvitur
Pudoris signaculum.

Super tali genitura
Stupet usus et natura
Deficitque ratio;
Res est ineffabilis,
Tam pia, tam humilis
Christi generatio.

Frondem, florem, nucem sicca
Virga profert et pudica
Virgo Dei filium;
Fert cælestem vellus rorem,
Creatura creatorem,
Creaturæ pretium.

Frondis, floris, nucis, roris
Pietati salvatoris
Congruunt mysteria:
Frons est Christus protegendo,
Flos dulcore, nux pascendo,
Ros cælesti gratia.

Cur, quod virgo peperit,
Est Iudæas scandalum?
Cum virga produxerit
Sicca sic amygdalum.

Contemplemur adhuc nucem;
Nam prolata nux in lucem
Lucis est mysterium;
Trinam gerens unionem
Tria confert: unctionem,
Lumen et edulium.

Nux est Christus: cortex nucis
Circa carnem pœna crucis,
Testa corpus osseum;
Carne tecta deitas
Et Christi suavitas
Signatur per nucleum.

Lux est cæcis et unguentum
Christus ægris et fomentum
Piis animalibus.
O quam dulce sacramentum
Fœnum carnis in frumentum
Convertit fidelibus.

Quos sub umbra sacramenti,
Iesu, pascis in præsenti,
Tuo vultu satia;
Splendor patri coæterne,
Nos hinc transfer ad paternæ
Claritatis gaudia.

deutsch:

Vaters Glanz und Ebenwesen
Fügt sich niedrer Erdenspur;
Daß die Jungfrau sein genesen,
Wirkte Allmacht, nicht Natur.

Adams Sünde,
Sie entschwinde
Und er sing’ in neuem Glück;
Der Vertriebne,
Schuldverschriebne
Kehr’ befreit zum Licht zurück.

Evas Leiden
Tauscht in Freuden
Sie, die Lebens Frucht gebiert;
Sie, die Reine,
Trägt das feine
Mal der Keuschheit unberührt.

Wenn man den Kristall befeuchtet
Und die Sonne ihn beleuchtet,
Sprüht aus ihm ein Feuerschein;
Doch wie der Kristall nicht bricht,
Öffnet dies Entbinden nicht
Keuscher Scham verschloßnen Schrein.

Dies Gebären, unvergleichbar,
Bleibt dem Wissen unerreichbar,
Und Natur verliert die Macht;
Keine Sprache nennt das Ding:
Fromm und schlicht und sehr gering
Ward der Herr zur Welt gebracht.

Dürrem Stab ist Laub entsprossen,
Nuß und Blueme, schamverschlossen
Trägt die Jungfrau Gottes Sohn;
Vließ betaut sich himmelsträchtig,
Erdgeschöpf wird Schöpfers mächtig,
Der der Schöpfung Löselohn.

Laubersprießen, Tauergießen,
Nuß und Blume, sie umschließen
Gütgen Heilands Wunderbild:
Laub ist Christus schutzgewährend,
Blume duftend, Nuß ernährend,
Tau durch seine Gnade mild.

Leben, das die Jungfrau gab,
Schafft den Juden blind Verdacht:
Hat nicht auch der dürre Stab
Mandelblüten einst gebracht?

Lernt die Nuß noch mehr begreifen,
Seht das lichte Wunder reifen,
Das aus ihr zutage sproßt;
Uns zu dreifach reicher Labe
Eint sie dreifach ihre Gabe:
Sanfte Salbe, Licht und Kost.

Nuß ist Christus: äußre Schale
Ist sein Fleisch am Kreuzespfahle,
Holzgehäuse das Gebein;
Doch der tiefste süße Kern
Ist die Göttlichkeit des Herrn
Hinter Körpers niederm Schein.

Licht ist Christus für die Blinden,
Kranke salbt er mit dem linden
Balsam, der die Seelen heilt;
Süß in Sakraments Verklärung
Wird sein welker Leib die Zehrung,
Die sich allen Gläubgen teilt.

Christ, der jetzt nur schattenweise
Du uns labst als heilge Speise,
Sättig uns in deinem Licht;
Vaters Glanz und ewge Einheit,
Führ uns in beglückter Reinheit
Einst vor Vaters Angesicht.

Deutsch von Franz Wellner

fontes

Adam von Sankt Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch-deutsche Ausgabe. Einfüh¬rung und formgetreue Übertragung von Franz Wellner, Wien 1937, S. 42 - 47
Adam von St. Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch und Deutsch, eingeführt und übertragen von Franz Wellner, 2. Aufl. München 1955

Die Erstauflage des Werkes erschien 1937 in Wien. Die Lebensdaten des Übersetzers waren nicht zu eruieren. Nach Auskunft des Verlages verfügt Kösel nicht mehr über die Rechte an dem genannten Buch und kennt auch keinen Rechtsnachfolger. Wir gehen daher davon aus, dass unserer Wiedergabe hier nichts entgegensteht.

scholia / marginalia

Sequentia in nativitate Domini
Sequenz auf das Weihnachtsfest

„Sequenz auf das Weihnachtsfest. – Diese vierte Weihnachts-Sequenz ist, in Unterscheidung von den drei vorhergehenden, vorwiegend symbolischen Inhalts. Die Beziehung auf Adam und Eva, deren Gedenken die Kirche am Vortag [24. Dezember] begangen hat, ist klar. Adams Schuld ist durch das Erscheinen des ‚neuen Adams’, Christus, getilgt [Röm. 5, 14-18; I. Kor. 15, 45]; Evas schmerzenreichem Gebären wird das freudenreiche der unversehrten Jungfrau gegenübergestellt. Die Symbole vom Stabe Aarons und vom Vließ Gedeons (siehe die Sequenz ‚Lux est orta gentibus) kehren wieder und werden ausführlich gedeutet. Neu ist die Betrachtung der Nuß, die im Mittelalter vielfach zum Symbol Christi gemacht wurde, wenn auch unter verschiedener Deutung der Einzelheiten; bei unserem Dichter versinnlicht die äußere [grüne] Schale das gepeinigte Fleisch Christi, die innere [harte] Schale das Gebein, der süße Kern die Göttlichkeit. Auch die drei Gaben der Nuß sind in Christus verwirklicht: Licht [der Belehrung], Salbe [der Heilung] und Kost [im Sakrament des Altars].“
Adam von Sankt Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch-deutsche Ausgabe. Einführung und formgetreue Übertragung von Franz Wellner, Wien 1937, S. 42f.

metrum

Die Verse der Strophe dieser Sequenz entstehen aus dem trochäischen Septenarius; der Septenarius wird nach der Cäsur aufgeteilt, und zudem wird der erste Halbvers wiederholt. So entsteht eine dreizeilige (Teil)Strophe, der drei gleich gebaute Verse als Gegenstrophe beigefügt werden; damit ist die Strophe nun sechszeilig. - Reimschema: aabccb.

Die erste und achte Strophe weichen von dieser Strophenform ab und sind nur vierzeilig. - Reimschema: abab.

Franz Wellner, der Übersetzer und Herausgeber der Sequenzen von Adam von Sankt-Viktor, behandelt in seiner Ausgabe Versbau, Versformen, Reim, Strophenbau, Strophenformen und Sequenzenaufbau des Dichters eingehend; hier sind zahlreiche weiterführende und aufschlussreiche Hinweise zu finden.

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