Templum cordis adoremus

Sequenzen

Adamus a Sancto-Victore (* um 1100 - † 1192)

Lateinisch:

Templum cordis adornemus,
Novo corde renovemus
Novum senis gaudium,
Quod, dum ulnis amplexatur,
Sic longævi recreatur
Longum desiderium.

Stans in signum polulorum
Templum luce, laude chorum,
Corda replet gloria;
Templo puer præsentatuts,
Post in cruce vir oblatus
Pro peccatis hostia.

Hinc salvator, hinc Maria,
Puer pius, mater pia,
Moveant tripudium;
Sed cum votis perferatur
Opus lucis, quod signatur
Luce luminarium.

Verbum patris lux est vera,
Virginalis caro cera,
Christus splendens cereus;
Cor illustrat ad sophiam,
Qua virtutis rapit viam
Vitiis erroneus.

Christum tenens per amorem
Bene iuxta festi morem
Gestat lumen cereum;
Sicut senex verbum patris
Votis, strinxit pignus matris
Bracchiis corporeum.

Gaude, mater genitoris,
Simplex intus, munda foris,
Carens ruga, magula,
A dilecto præelecta,
Ab electo prædilecta
Deo muliercula.

Omnis decor tenebrescit,
Deformatur, inhorrescit
Tuum intuentibus;
Omnis sapor amarescit,
Reprobatur et sordescit
Tuum prægustantibus.

Omnis odor redolere
Non videtur, sed olere
Tuum odorantibus;
Omnis amor aut deponi
Prorsus solet aut postponi
Tuum nutrientibus.

Decens maris luminare,
Decus matrum singulare,
Vera parens veritatis,
Viæ, vitæ, pietatis,
Medicina sæculi,
Vena vivi fontis vitæ
Sitienda cunctis rite,
Sano dulcis et languenti,
Salutaris fatiscenti
Confortantis poculi:

Fons signate
Sanctitate,
Rivos funde,
Nos infunde,
Fons hortorum
Internorum,
Riga mentes
Arescentes
Unda tui rivuli;
Fons redundans,
Sis inundans,
Cordis prava
Quæque lava,
Fons illimis,
Munde nimis,
Ab immundo
Munda mundo
Cor mundani populi.

deutsch:

Unsrer Herzen Tempel schmückend
Laßt uns feiern, neu beglückend,
Jenes Greises fromme Lust;
Froh darf er auf Händen tragen,
Was in langer Sehnsucht Tagen
Treu er trug in seiner Brust.

Seht, das Zeichen steht erhoben:
Herzen glühen, Chöre loben,
Leuchtens ist der Tempel voll;
Denn als Kind wird hergetragen,
Der als Mann, ans Kreuz geschlagen,
Einst die Welt entsühnen soll.

Heilands Mutter, liebreich nahend,
Jesus, liebreich sie umfahend:
Welch beglückendes Gesicht!
Kommt, das Opfer sei gespendet
Und das Werk des Lichts vollendet,
Fromm erschaut im Weihelicht.

Vaters Wort ist wahre Flamme,
Wachs der Leib vom keuschen Stamme,
Kerze ist der helle Christ;
Denn er strahlt den Herzen Klärung,
Weist die Straße der Bekehrung
Aus der Sünde wirrer List.

Trag das Kindlein fest im Herzen
Und im Weihebrauch der Kerzen
Flammt dein Licht im rechten Brand;
So erschaut der Greis verlangend
Vaters Wort und hält umfangend
Treu im Arm der Mutter Pfand.

Schöpfers Mutter, reich beglückte,
Allem Makel weit entrückte,
Rein von Leibe, schlicht von Sinn,
Des Verklärten Höchstgeehrte,
Des Verehrten Liebverklärte,
Gottes treuste Dienerin:

Alle Schönheit muß erbleichen,
Muß als Häßlichkeit entweichen,
Wenn die deine sich enthüllt;
Alle Süße muß ersterben,
Muß zu Bitterkeit verderben,
Wenn die deine uns erfüllt.

Aller Duft scheint nicht zu hauchen,
Scheint zu schwelen und zu rauchen,
Wenn der deine uns umfließt;
Alle Liebe muß entsagen,
Muß sich ihrer Macht entschlagen
Wenn die deine in uns sprießt.

Reinste Leuchte überm Meere,
Mutter, aller Mütter Ehre,
Die gebärend uns gegeben
Wahrheit, Liebe, Weg und Leben,
Du Arznei der kranken Zeit;
Du lebendger Quell des Lebens,
Würdig alles durstgen Strebens,
Süß dem Starken wie dem Schwanken,
Heilsam für den Sehnsuchtskranken,
Der nach Bechers Labe schreit:

Born im Siegel
Heilger Riegel,
Ström in Flüssen,
Selgen Güssen;
Born im zarten
Herzensgarten,
Laß dein Kühlen
Neues Fühlen
Dem verdorrten Geist verleihn
Born erschwellend,
Überquellend,
Lösch die Fehle
Unsrer Seele;
Born der Helle,
Klarste Welle,
Lös die Fährde
Dieser Erde,
Mach die Herzen himmelsrein.

Deutsch von Franz Wellner

fontes

Adam von Sankt Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch-deutsche Ausgabe. Einfüh-rung und formgetreue Übertragung von Franz Wellner, Wien 1937, S. 106 - 111
Adam von St. Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch und Deutsch, eingeführt und übertragen von Franz Wellner, 2. Aufl. München 1955

scholia / marginalia

Sequentia in purificatione Beatae M.V.
Sequenz auf Mariä Lichtmeß (2. Februar)

"Die Mutter, die ein Knäblein geboren hatte, mußte am 40. Tage nach der Geburt das Reinigungsopfer darbringen (III. Mos. 12, 2-6). Als Maria mit dem Jesuskind zum Tempel kam, begegnete ihr Simeon, ein frommer Greis, dem von Gott verheißen war, er werde nicht sterben, ohne den Gesalbten des Herren gesehen zu haben; er nahm das Kind in die Arme und pries es weissagend als das Heil der Welt, als ein Zeichen, vor den Völkern erhoben (Isaias 11, 10), und als das Licht der Heiden (Luk. 2, 22-34).

Aus der Erinnerung an diese Worte und in Umdeutung altheidnischer Fackelzüge, die um diese Jahreszeit gefeiert zu werden pflegten, entwickelt sich der Gebrauch, mit dem Feste der Reinigung Mariä und Darbringung Christi die Kerzenweihe und Kerzenprozession zu verbinden. Die Kerze wird hiebei zum Symbol Christi: das reine Wachs ist sein unbefleckt geborenes Fleisch, die Flamme seine Göttlichkeit. Die zweite Hälfte der Sequenz ist eine einzige verzückte Anrufung der seligsten Jungfrau, vor deren Schönheit alle Wonnen der Welt verbleichen, der glorrreichen Mutter des Heilands, der sich selbst den Weg, die Wahrheit und das Leben nannte (Joh. 14, 6). Sie ist jener versiegelte Born (Hoh. L. 4, 12), jener Quell im Garten (Hoh. L. 4, 15), dessen klare Wasser auch uns von den Makeln der sündigen Welt reinigen." Adam von Sankt Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch-deutsche Ausgabe. Einfüh-rung und formgetreue Übertragung von Franz Wellner, Wien 1937, S. 106f.

Adam von St. Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch und Deutsch, eingeführt und übertragen von Franz Wellner, 2. Aufl. München 1955

metrum

Die Verse der Strophe dieser Sequenz entstehen aus dem trochäischen Septenarius; der Septenarius wird nach der Cäsur aufgeteilt, und zudem wird der erste Halbvers wiederholt. So entsteht eine dreizeilige (Teil)Strophe, der drei gleich gebaute Verse als Gegenstrophe beigefügt werden; damit ist die Strophe nun sechszeilig. - Reimschema: aabccb. Wird die erste Hälfte des Septenarius vervielfacht, ergeben sich achtzeilige oder zehnzeilige Strophen (zweitletzte Strophe), wobei das Reimschema in dieser Strophe folgendermaßen variiert wird: aabbcddeec.

Die Verse der letzten Strophe sind kürzer, das Reimschema: aabbccddfgghhiikkf.

Franz Wellner, der Übersetzer und Herausgeber der Sequenzen von Adam von Sankt-Viktor, behandelt in seiner Ausgabe Versbau, Versformen, Reim, Strophenbau, Strophenformen und Sequenzenaufbau des Dichters eingehend; hier sind zahlreiche weiterführende und aufschlussreiche Hinweise zu finden.

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