Simplex in essentia

Adamus a Sancto-Victore (* um 1100 - †1192)

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aus dem Graduale von Katharinental.

Lateinisch:

Simplex in essentia,
Septiforma gratia
Nos reformet spiritus;
Cordis lustret latebras
Et carnis illecebras
Lux emissa cælitus.

Lex præcessit in figura,
Lex pœnalis, lex obscura,
Lumen evangelicum;
Spiritalis intellectus
Literali fronde tectus
Prodeat in publicum.

Lex de monte populo,
Paucis in cenaculo
Nova datur gratia;
Situs docet nos locorum,
Præceptorum vel donorum
Quæ sit eminentia.

Ignis, clangor buccinæ,
Fragor cum caligine,
Lampadum discursio
Terorem incutiunt
Nec amorem nutriunt,
Quem infundit unctio.

Sic in Sina
Lex divina
Reis est imposita,
Lex timoris,
Non amoris
Puniens illicita.

Ecce, patres præelecti
Dii recentes sunt effecti,
Culpæ solvunt vincula;
Pluunt verbo, tonant minis;
Novis linguis et doctrinis
Consonant miracula.

Exhibentes ægris curam
Morbum damnant, non naturam;
Persequentes scelera
Reos premunt et castigant,
Modo solvunt, modo ligant
Potestate libera.

Typum gerit iubilæi
Dies iste, si diei
Requiris mysteria,
In quo tribus milibus
Ad fidem currentibus
Pullulat ecclesia.

Iubilæus est vocatus
Vel dimittens, vel mutatus,
Ad priores vocans status
Res distractas libere.
Nos distractos sub peccatis
Liberet lex caritatis
Et perfectæ libertatis
Dignos reddat munere.

deutsch:

Einer bist du wesenhaft,
Siebenfach an Gnadenkraft:
Füll uns, Geist, mit neuem Sein;
Was das trübe Herz verstockt,
Was das schwache Fleisch verlockt,
Leucht es weg, du Himmelsschein.

Wo Gesetzes Bild gewaltet,
Finstrer Rache nachgestaltet,
Strahlt der frohen Borschaft Licht;
Neuen Geistes tiefres Wissen,
Welkem Laub der Schrift entrissen,
Tritt vor aller Welt Gesicht.

Satzung gab dem Volk der Berg,
Neuen Bundes Gnadenwerk
Wird beim Mahl der kleinen Schar;
Laßt die Orte euch belehren:
Dort Befehlen, hier Gewähren -
Welch ein Abstand wunderbar.

Feuer, das in Donnern kracht,
Sturms Posaune, Nebels Nacht,
Fackeln, hin und her geschwenkt,
Schlagen nur mit Schreck und Pein,
Flößen nicht die Liebe ein,
Die die neue Salbung schenkt.

Furchbar trafen
Gottes Strafen
Unter Sinaïs Gericht;
Schrecken drohten
Aus Verboten,
Wirkten Angst, doch Liebe nicht.

Seht die Väter, hocherhaben:
Neuen Göttern gleich an Gaben,
Lösen sie der Sünde Haft;
Donnern Warnung, strömen Klärung,
Neuer Sprache und Belehrung
Leihn die Wunder Glaubenskraft.

Sieche pflegen sie geduldig:
Krankheit, nicht Natur ist schuldig;
Strafend drohn sie frevler Tat;
Feinde sind sie allem Bösen,
Doch sie binden oder lösen
Nur nach freien Willens Rat.

Gleich des Jubeljahrs Verküdung
Zeigt sich sinnender Ergündung
Jenes Tags Geheimniskraft,
Da Dreitausend, heilsbelehrt,
Froh zum Glauben sich bekehrt,
Junger Kirche jüngster Saft:

Wenn die Jubelzeit sich jährte,
Fand Erlaß der Schuldbeschwerte,
Und das einst Verkaufte kehrte
Frei zum alten Stand zurück.
Mög auch uns, verkauft in Sünden,
Liebe ihr Gesetz verkünden,
Daß erlöst wir wiederfinden
Wahrer Freiheit Gnadenglück.

Deutsch von Franz Wellner

fontes

Adam von Sankt Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch-deutsche Ausgabe. Einfüh-rung und formgetreue Übertragung von Franz Wellner, Wien 1937, S. 168 - 173
Adam von St. Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch und Deutsch, eingeführt und übertragen von Franz Wellner, 2. Aufl. München 1955

scholia / marginalia

Sequentia in Pentecoste
Sequenz auf das Pfingstfest

"Mit der Ausgießung des Hl. Geistes wird der Gegensatz zwischen dem finsteren Recht des Alten Bundes und der lichten Gnade des Neuen offenkundig. Das Gesetz vom Sinaï, das unter dem Klang der Posaunen, unter Donner und Blitz aus der rauchenden Wolke erging (II. Mos. 19, 16-19), vermochte nur Schrecken zu verbreiten; die milde Predigt der Apostel, ihr Wunderwirken und ihre Macht, zu binden und zu lösen (Matth. 18, 18; Joh. 20, 23), flößen Liebe ein. Ja, als Paulus, der mit Barnabas in Lystra weilte, daselbst einen Lahmgeborenen geheilt hatte, wollte das Vollk sie als die neuerschienenen Götter Jupiter und Merkur verehren (Ap. Gesch. 14, 10 - 11; siehe auch Ap. G. 28, 6).

Pfingsten, der fünfzigste Tag noch Ostern, an dem sich dreitausend Gläubige der neuen Kirche anschlossen (Ap. Gesch. 2, 41), erinnert an das fünfzigste Jahr der Alten, das jeweils als Jubeljahr gefeiert wurde: wie im Jubeljahr der Schuldner entlastet und in den ursprünglichrn Stand zurückversetzt wurde (III. Mos. 25, 90-13), so kehren durch die Pfingstgnade auch wir aus der Schuldhaft der Sünde in den alten Stand beglückter Freiheit zurück."

Adam von Sankt Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch-deutsche Ausgabe. Einfüh-rung und formgetreue Übertragung von Franz Wellner, Wien 1937, S. 168f.

metrum

Die Verse der Strophe dieser Sequenz entstehen aus dem trochäischen Septenarius; der Septenarius wird nach der Cäsur aufgeteilt, und zudem wird der erste Halbvers wiederholt. So entsteht eine dreizeilige (Teil)Strophe, der drei gleich gebaute Verse als Gegenstrophe beigefügt werden; damit ist die Strophe nun sechszeilig. - Reimschema: aabccb. Wird die erste Hälfte des Septenarius vervielfacht, ergeben sich achtzeilige oder zehnzeilige Strophen, und das Reimschema ist dann entsprechend aaabcccb oder aaaabccccb (letzte Strophe der Sequenz).

Die vierte Strophe (Sic in Sina) behält das Reimschema der andern bei, die Verse aber sind kürzer.

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