Gaude, Sion, et laetare

Adamus a Sancto-Victore ( 1192)

Lateinisch:

Gaude, Sion, et lætare,
Voce, voto iucundare
Sollemni lætitia!
Tuus Thomas trucidatur,
Pro te, Christe, immolatur
Salutaris hostia.

Archipræsul et legatus
Fuit Thomas consecratus,
Nullo tamen est elatus
Honoris fastigio;
Dispensator summi regis
Et divinæ doctor legis
Pro tutela sui gregis
Trusus est exsilio.

Telo certans pastorali,
Ense cinctus spiritali
Triuphare meruit.
Hic pro Dei sui lege
Et pro suo mori grege
Decertare studuit.

Tunc rectore desolatam
Et pastore viduatam
Se plangebat Cantia;
Versa vice plausu miro
Exsultavit tanto viro
Senonensis Gallia.

Quo absente infirmatur,
Infirmata perturbatur,
Perturbata concultatur
Libertas ecclesiæ.
Sic nos, pastor, reliquisti
Te configens cruci Christi
Nec a vero recessisti
Tramite iustitiæ.

Quondam cœtu curiali
Primus eras et regali
Militans palatio;
Plebis aura favorali
Et, ut mos est, temporali
Plaudebas præconio.

Consequenter es mutatus,
Præsulatu sublimatur,
Novus homo reparatus
Felici commercio;
Ex adverso ascendisti
Et te murum obiecisti,
Caput tuum obtuisti
Christi sacrificio.

Carnis tuae morte spreta
Triumphalis es athleta;
Palma tibi datur læta,
Quod testantur insueta
Miranda miracula:
Per te visus cæcis datur,
Claudis gressus instauratur,
Paralysis effugatur,
Vetus hostis propulsatur
Et peccati macula.

Cleri gemma, clare Thoma,
Motus carnis nostræ doma
Precum efficacia,
Ut in Christo, vera vite,
Radicati veræ vitæ
Capiamus præmia.

deutsch:

Freu dich, Sion: all dein Loben,
All dein Beten, glückserhoben,
Folge frohem Festgebot;
Denn dein Thomas, den die Horden
Heut um Christi willen morden,
Stirbt erhabnen Opfertod.

Der in frommen Weihn ernannte
Hohe Bischof und Gesandte,
Thomas, er, der Edle kannte
Nicht der Ehren stolzen Pfad;
Der nur Gottes Schätze mehrte,
Gottes wahre Rechte lehrte,
Gläubgen wies die sichre Fährte,
Trug Verbannung und Verrat.

Kämpfend mit des Hirten Speere,
Mit des Geiste blanker Wehre,
War er hohem Sieg erkürt;
Denn er floh nicht Tod und Fährde,
Stand getreu zu seiner Herde,
Stand zum Recht, das Gott gebührt.

England klagt in Bitternissen,
Da der Hirte ihm entrissen,
Da des Führers es verwaist;
Doch in Schicksals froher Kehrung
Jubelt Frankreich, das Verehrung
Solch erhabnem Geist erweist.

Wo er fehlt, da liegt zerschunden,
Liegt verstört und voll der Wunden
All das freie Rrecht gebunden,
Das der Kirche treu gebührt;
Drum bist du von uns gegangen,
Christi Marter zu empfangen,
Hirte, den kein falsches Bangen
Von dem Pfad des Rechts entführt.

Einst, im höfisch hohen Kreise,
Bot sich Alles dir zum Preise,
Königs Haus und Heeresmacht;
Volkes Gunst war überschwenglich,
Doch man kennt es, schnell vergänglich,
Die so lockend dir gelacht.

Da zum Bischof du erlesen,
Ward ein neues all dein Wesen,
Und des frühern dich zu lösen,
Strebtest du in freudgem Dank;
Neu hast du dein Sein errrichtet,
Feinden dich zum Wall geschichtet,
Christo opfernd dich verpflichtet,
Da dein Haupt getroffen sank.

Da du Körpers Tod bezwungen,
Hast du Siegers Thron erschwungen;
Daß die Palme du errungen,
Künden mit beredten Zungen
All die Wunder, nie erreicht:
Denn du machst die Blinden sehen,
Machst die Lahmen wieder gehen,
Die Geschwächten neu erstehen,
Wirfst den Feid aus seinen Höhen,
Daß die Schmach der Sünde weicht.

Edler Thomas, durch dein Beten
Hilf uns, unser Fleisch zu töten,
Du, der Kirche Edelstein;
Laß uns Christ, den Weinberg, finden,
Daß verwurzelt seinen Gründen,
Wir zu Lebens Ruhm gedeihn.

Deutsch von Franz Wellner

fontes

Adam von Sankt Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch-deutsche Ausgabe. Einführung und formgetreue Übertragung von Franz Wellner, Wien 1937, S. 64 - 69
Adam von St. Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch und Deutsch, eingeführt und übertragen von Franz Wellner, 2. Aufl. München 1955

Die Erstauflage des Werkes erschien 1937 in Wien. Die Lebensdaten des Übersetzers waren nicht zu eruieren. Nach Auskunft des Verlages verfügt Kösel nicht mehr über die Rechte an dem genannten Buch und kennt auch keinen Rechtsnachfolger. Wir gehen daher davon aus, daß unserer Wiedergabe hier nichts entgegensteht.

scholia / marginalia

Sequentia de s. Thoma Cantuariensi
Sequenz auf den heiligen Thomas von Canterbury

Gedenktag des Heiligen ist der 29. Dezember

"Thomas von Canterbury oder, mit seinem weltlichen Namen, Thomas von Becket war ein Zeitgenosse Adams von St. Viktor, ja trat mit diesem auch in persönliche Berührung; denn während seines Aufenthaltes in Frankreich besuchte Thomas am 4.September 1169, zur Oktave des Augustinerfestes, die Abtei St. Viktor, hielt im Refektorium eine Rede über den Vers: 'Im Frieden ist seine Stätte bereitet' [Ps. 75, 3] und disputierte mit dem damaligen Prior Richard von St. Viktor. In den Worten 'Drum bist du von uns gegangen' [Str. 5, V. 5) klingt diese persönliche Erinnerung nach; bald nach seinem Besuch in St. Viktor verließ nämlich Thomas das gastliche Frankreich.

Thomas wurde 1117 zu London geboren, nach gründlichen weltlichen und geistlichen Studien 1154 Archidiakon von Canterbury, 1157 Reichskanzler und 1162 auf Betreiben des Königs Heinrich II. (1154 - 1189) Erzbischof von Canterbury. Früher ein allbeliebter Hofmann, wurde er mit dem Augenblick seiner Ernennung in völlig neuer Mensch, unterwarf sich strengster Askese und verfocht ganz im Sinne des Papstes Alexander III. unbeugsam die Rechte der Kirche gegenüber der weltlichen Macht. Vom empörten Adel mit dem Tode bedroht, floh er nach Frankreich und lebte zuerst in Pontigny, dann in Sens als Mönch. 1166 zum päpstlichen Legaten in England ernannt, führte er den Kampf mit geistlichen Waffen weiter, während Heinrich alle seine Güter einzog und alle seine Anhänger aus England vertrieb. 1170 kam es zu einem Ausgleich, und Thomas, der seinen Gläubigen nicht länger fernbleiben wollte kehrte nach Canterbury zurück; doch nur zu bald ergaben sich neue Streitigkeiten, und in Befolgung einer heftigen Äusserung des Königs ermordeten vier Edelleute Thomas vor dem Altar seiner Kirche am 29. Dezember 1170. An seinem Grabe vollzogen sich zahlreiche Wunder, und bereits 1173 erfolgte die Heiligsprechung.
Die Entstehung der vorliegenden Sequenz wurde von der Viktoriner Tradition in das Jahr 1174 versetzt." Adam von Sankt Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch-deutsche Ausgabe. Einfüh-rung und formgetreue Übertragung von Franz Wellner, Wien 1937, S. 64f.

Gallia senonensis (4. Strophe, Vers 6): In Sens und in Pontigny, einer der vier Primarabteien, die von Mönchen aus Cîteaux gegründet wurden, selbst Mutterkloster von dreiundvierzig Tochterabteien, lebte Thomas von Canterbury von 1164 - 1166 im Exil.

Schicksal und Leben Thomas Beckets (Thomas von Canterbury) erfuhren mehrere künstlerische Gestaltungen, so in der Novelle von Conrad Ferdinand Meyer (Der Heilige) oder in den Dramen von Thomas Stearns Eliot (Mord im Dom), Christopher Fry (König Kurzrock) und Jean Anouilh (Becket oder die Ehre Gottes).

Ildebrando Pizzetti schuf 1957 nach dem Drama von T.S. Eliot die Oper "Assassinio nella cattedrale"; sie wurde 1958 an der Mailänder Scala uraufgeführt und unter Herbert von Karajan 1960 auch an der Wiener Staatsoper gespielt.

Zu den bedeutendsten Darstellungen des Martyriums von Thomas von Canterbury zählt der Thomas-Altar (um 1424, Hamburger Kunsthalle) von Meister Francke (um 1383 - um 1436).

metrum

Die Verse der Strophe dieser Sequenz entstehen aus dem trochäischen Septenarius; der Septenarius wird nach der Cäsur aufgeteilt, und zudem wird der erste Halbvers wiederholt. So entsteht eine dreizeilige (Teil)Strophe, der drei gleich gebaute Verse als Gegenstrophe beigefügt werden; damit ist die Strophe nun sechszeilig. - Reimschema: aabccb

Wird die erste Hälfte des Septenarius vervielfacht, ergeben sich achtzeilige oder zehnzeilige Strophen, und das Reimschema ist dann entsprechend aaabcccb oder aaaabccccb.

Franz Wellner, der Übersetzer und Herausgeber der Sequenzen von Adam von Sankt-Viktor, behandelt in seiner Ausgabe Versbau, Versformen, Reim, Strophenbau, Strophenformen und Sequenzenaufbau des Dichters eingehend; hier sind zahlreiche weiterführende und aufschlussreiche Hinweise zu finden.

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