Verbo verbum virgo concipiens

Petrus Abælardus (1079 - 1142)

Lateinisch:

Verbo verbum virgo concipiens,
Ex se verus ortus est oriens,
A quo vera diffusa claritas
Cirucumductas abduxit tenebras.

Felix dies, dierum gloria,
Huius ortus quæ vidit gaudia,
Felix mater, quæ Deum genuit,
Felix stella, quæ solem peperit.

Quam beata pauper puerpera,
Cuius partus ditavit omnia,
Pauper, inquam, sed celsa genere
Pontificum et regum sanguine.

Vitæ viam in via peperit,
Hospitium non domum habuit,
Regum proles et cœli domina
Pro cameris intravit stabula.

Obstetrices in partu deerant,
Sed angeli pro eis aderant,
Quorum statim chorus non modica
Huius ortus edixit gaudia.

Defuerunt fortassis balnea,
Sed, quam lavent, non erat macula,
Non est dolor, quam illa relevent,
Nec scissura, quam illa reparent.

In excelsis sit Deo gloria,
Pacis nobis in terra fœdera,
Quam super his voces angelicæ
Decantasse noscuntur hodie.

Deutsch:

Da die Jungfrau durchs Wort das Wort empfing,
kam der Morgen, da uns das Licht aufging,
da in wahrer Klarheit Tag hat getagt,
aufgetürmte Finsternis hat verjagt.

Tag so glücklich, Ruhm aller Tage du,
sahst das Licht, und Freudenglanz kam dir zu,
Selige Mutter, die Gott den Herrn gebar,
Seliger Stern, der Mutter der Sonne war!

Sel'ge Mutter du, ob auch arm zugleich!
Deines Leibes Frucht machte alle reich,
Arm zwar, doch aus edlem Geschlecht erblüht,
priesterlichem, königlichem Geblüt.

Unterwegs gebar sie des Lebens Weg.
Ohne Haus sucht Schutz sie im Feldgeheg.
Königstocher, Herrin der Himmel all,
statt ins Prunkgemach tritt sie in den Stall.

Helferinnen, Hebammen gab's hier nicht.
Engel kamen, taten an ihr die Pflicht.
Sangen helle Jubellieder sogleich,
die Geburt zu preisen so freudenreich.

Möglichkeit zum Baden fehlte schlicht.
Schmutz und Flecken abzuwaschen gab's ja nicht.
Schmerzen, die zu lindern, waren nirgendwo,
weder Wunden noch Verletzung ebenso.

In der Höhe Gott sei die Ehr allzeit,
uns auf Erden des Friedens Einigkeit,
den für uns Menschen der Engelchor voll Freud',
wie wir's erkennen, herabgesungen heut!

Deutsch von Hansjürgen Bertram

fontes

Petri Abaelardi peripatetici palatini Hymnarius Paraclitensis sive Hymnorum libelli tres.
Ad fidem Bruxellensis et Calmontani. Edidit Guido Maria Dreves, S.J. Parisiis 1891 (Reprint BiblioLife), S.95
Peter Abelard's Hymnarius Paraclitensis. An annotated edition with introduction by Joseph Szövérffy. II. The Hymnarius Paraclitensis. Text an Notes. Albany, N.Y. and Brookline, Mass. 1975, S. 81 - 84

scholia / marginalia

In Nativitate Domini - In 1 Nocturno
Zur Geburt des Herrn - zur ersten Nocturn

Dem Dichter gelang der Kunstgriff, in der gleichen Hymne sowohl die trauliche "Idylle im Stall" zu schildern als auch gleichzeitig das Geheimnis des Heilsgeschehens als theologische Aussage zu formulieren.

Petrus Abaelardus ist neben Anselm von Canterbury der bedeutendste, wenn auch ein umstrittener, Philosoph und Theologe des 12. Jahrhunderts.

Petrus Abaelards wies der Vernunft in der Diskussion philosophischer und theologischer Fragen eine entscheidende Rolle zu; in dieser Hinsicht war ein Aufklärer und vertrat damit eine Position, der man erst Jahrhunderte später bei René Descartes und den Aufklärern wieder begegnet.

Dubitan do enim ad inquisitionem venimus; inquirendo veritatem percipimus. (Sic et Non, 1122/23) (Durch Zweifeln gelangen wir zum Fragen; fragend erkennen wir die Wahrheit.)

Petrus Abaelardus aber war nicht nur Philosoph und Theologe, er war auch ein Dichter von Rang. Für das Kloster Paraklet, dem Heloisa vorstand, verfasste er nicht nur eine Ordensregel und Predigten, sondern auch Hymnen. Es ist das einzige Hymnar aus der Hand eines einzigen Dichters, das aus dem Mittelalter überliefert ist.

Im "Hymnarium" sollen künftig weitere Hymnen von Petrus Abaelardus vorgestellt werden.

"Abälard, der Peripatetiker von Palais, der Abt von St. Gildas, der Widersacher des hl. Bernhard und der Schutzbefohlene Peters des Ehrwürdigen, ist von jeher eine der merkwürdigsten Gestalten in der Geschichte der theologisch-philosophischen Kämpfe des Mittelalters gewesen. Sein ganzes Leben ist ein ununterbrochener Roman, wie man ihn sich abwechslungs- und wirkungsreicher kaum denken kann. Was Wunder, wenn dies abenteuernde Leben wieder und wieder beschrieben wurde. (...)

Wir wollen uns vielmehr auf eine einzige literarische That Abälards, auf das von ihm verfaßte Hymnar der Abtei Paraklet beschränken. Ist doch über dem Philosophen der Dichter Abälard so gut wie vergessen worden, obgleich zu den Lebzeiten des genialen Mannes der Ruf des letzteren dem des ersteren kaum nachstand. Aber es sind die weltlichen Lieder Abälards im Strome der Zeiten verrauscht und verklungen, und seine geistlichen Lieder theilten das Schicksal der Hymnenliteratur überhaupt: es war dafür wenig Verständniß, wenig Interesse vorhanden.

Abälard war kühn und bahnbrechend in der heiligen Poesie: kühn, weil er der erste und einzige Autor ist (es könnte neben ihm nur noch der späte Santeul in Betracht kommen), der ein gesammtes liturgisches Hymnar verfaßte; bahnbrechend, weil er sich dabei eines neuen, zum Theil sehr künstlichen Versbaues befliß, vermöge dessen er als einer jener Autoren angesehen werden muß, auf deren Schultern die ganze wundervolle Blütezeit lateinischer Rhythmendichtung steht, welche mit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts begann, das ganze 13. hindurch anhielt und nur langsam im 14. von ihrer Höhe herabsank. (...)

Daß Abälard überhaupt dichterisch thätig war und, wie das ja im frühen Mittelalter noch vielfach zu geschehen pflegte, seine Gedichte auch selbst mit Melodien versah, dafür haben wir sowohl sein eigenes als Heloise's Zeugniß. Von der Existenz eines durch Abälard verfaßten Hymnars aber gab jederzeit der kurze Widmungsbrief Nachricht, welcher sich vor dem Buche der Predigten befindet und in welchem der Verfasser Heloise mittheilt, er sende ihr, nachdem er erst unlängst auf ihre Bitten hin ein Buch Hymnen oder Sequenzen verfaßt, nunmehr eine Sammlung geistlicher Vorträge und Unterweisungen für ihr Kloster Paraklet."

Guido Maria Dreves, Der Philosoph von Palais als Hymnopoet. In: Stimmen aus Maria-Laach. Katholische Blätter. Einundvierzigster Band. Freiburg i.Br. 1891, S. 426f.

Literatur

Petri Abaelardi peripatetici palatini Hymnarius Paraclitensis sive Hymnorum libelli tres. Ad fidem Bruxellensis et Calmontani. Edidit Guido Maria Dreves, S.J. Parisiis 1891 (Reprint BiblioLife)
Peter Abelard's Hymnarius Paraclitensis. An annotated edition with introduction by Joseph Szövérffy. I. Introduction to Peter Abelard's Hymns. Albany, N.Y. and Brookline, Mass. 1975
Peter Abelard's Hymnarius Paraclitensis. An annotated edition with introduction by Joseph Szövérffy. II. The Hymnarius Paraclitensis. Text an Notes. Albany, N.Y. and Brookline, Mass. 1975
Guido Maria Dreves, Der Philosoph von Palais als Hymnopoet. In: Stimmen aus Maria-Laach. Katholische Blätter. Einundvierzigster Band. Freiburg i.Br. 1891, S. 426 - 448
Chrysogonus Waddell, Peter Abaelard as creator of liturgical texts. - In: Rudolf Thomas (Hg.), Peter Abaelard, Person, Werk, Wirkung (Trierer Theologische Studien 38), Trier 1980

metrum

Versmaß: akzentuierend, nicht quantitierend, in Paarreimen

Die graphische Anordnung der Verszeilen ist in den verschiedenen Textausgaben unterschiedlich.

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