Ut quid iubes

Godescalus Orbacensis (+ 869)

Lateinisch:

Ut quid iubes, pusiole,
Quare mandas, filiole,
Carmen dulce me cantare,
Cum sim longe exsul valde
Intra mare?
O cur iubes canere?

Magis mihi, miserule,
Flere libet, puerule,
Plus plorare quam cantare
Carmen tale, iubes quale,
Amor care,
O cur iubes canere?

Mallem, scias, pusillule,
Ut velles tu, fratercule,
Pio corde condolere
Mihi atque prona mente
Conlugere.
O cur iubes canere?

Scis, divine tiruncule,
Scis, superne clientule,
Hic diu me exsulare,
Multa die sive nocte
Tolerare.
O cur iubes canere?

Scis captivæ plebeculæ
Israeli cognomine
Præceptum in Babylone
Decantare extra longe
Fines Iudæ.
O cur iubes canere?

Non potuerunt utique
Nec debuerunt itaque
Carmen dulce coram gente
Aliena nostræ terræ
Resonare
O cur iubes canere?

Sed quia vis omnimode,
Consodalis egregie,
Canam patri filioque
Simul atque procedente
Ex utroque.
Hoc cano ultronee.

Benedictus es, Domine,
Pater, nate, paraclite,
Deus trine, Deus une,
Deus summe, Deus pie,
Deus iuste.
Hoc cano spontanee.

Exsul ergo diuscule
Hoc in mare sum, Domine,
Annos nempe duos fere
Nosti fore, sed iamiamque
Miserere.
Hoc rogo humillime.

Huic cano ultronee
Interim cum, pusiole,
Psallam ore, psallam mente,
Psallam die, psallam nocte
Carmen dulce
Tibi, rex piissime.

Deutsch:

Was befiehlst du mir, o knäblein,
Warum forderst du, o söhnlein,
Dass ich süsse lieder singe,
Der ich als verbannter lang das
meer durchdringe?
O warum soll ich dir singen?

Besser ziemte mir elendem,
Knäblein, meinen sang zu wenden,
Klagen sollte ich als büsser
Statt zu singen, wie du forderst,
lieber, süsser.
O warum soll ich dir singen?

Lieber wollt ich, jungendlicher,
Magst du’s wissen, brüderlicher,
Frommen herzens in mir trauern
Und in dem gesenkten geiste
tief erschauern.
Wo warum soll ich dir singen?

Denn du weisst, göttlicher lerner,
Denn du weisst, erhabner lehrer,
Dass ich lange hier verbannt bin,
Tag und nacht viel zu ertragen
hier ernannt bin.
O warum soll ich dir singen?

Weisst, dass den gefangnen scharen,
Die in Babylon einst lagen,
Israel befohlen wurde,
Ohne matten zu besingen
Judas ende.
O warum soll ich dir singen?

Doch du liessest dich bestimmen,
Und sie brauchten doch nicht immer
Ihre süssen lieder schallend
Vor dem fremden volk der erde
dort zu hallen.
O warum soll ich dir singen?

Aber da du es beschlossen,
Ausgezeichneter genosse,
Sing dem Vater und dem Sohne
Und dem Heiligen Geiste ich mit
lautem tone
Diesen sang aus freiem willen.

Sei gebenedeit, o höchster,
Vater, Sohn und milder Tröster,
Gott in dreien, Gott der eine,
Gott der grösste, Gott der gute,
Gott der reine,
Durch den sang aus freiem willen.

Doch ich bin verbannt, gebieter,
Hier im meere, du geliebter,
Schon zwei jahre sieh mich armen
Hier verweilen, lass dich endlich
mein erbarmen,
Darum bitt ich auf den knien.

Und als sang aus freier gabe
Singt inzwischen, holder knabe,
Psalm die seele, psalm die lippe,
Psalm am tage, psalm in nächten,
süsse lieder
Sing ich dir, du milder könig.

Deutsch von Friedrich Wolters (1876 – 1930)

fontes

Guido Maria Dreves, Clemens Blume, Ein Jahrtausend Lateinischer Hymnendichtung. Erster Teil, S. 91f.
Friedrich Wolters, Hymnen und Sequenzen, S. 69ff.

scholia / marginalia

In Laudem SS. Trinitatis
Hymne zum Lob der heiligsten Dreifaltigkeit

„Cette belle pièce, réponse fictive ou non à un jeune oblat ou novice (...) Elle fait l’objet d’interprétations diverses prétendant retrouver un sens ésotérique sous les symboles du texte. Pour Perugi, pusiolus serait le passé, sodalis le présent. Ce ne sont là que suppositions. Mais il reste que ce ‚chant d’exil’, composé durant le séjour punitif de Godchau dans une petite île de Frioul, est celui de l’âme aspirant au paradis.“
(Henry Spitzmuller, Poésie latine chrétienne du Moyen Age IIIe - XVe siècle. Textes recueillis, traduits et commentés par Henry Spitzmuller. Bruges: Desclée de Brouwer, 1971, S. 358f., Anm. 33)

metrum

Versmaß: sechszeilige Strophen, akzentuiert, zusammengesetzt aus

zwei aktatalektischen iambischen Dimetern, zwei akatalektischen trochäischen Dimetern, einem akatalektischen trochäischen Monometer und einem katalektischen trochäischen Dimeter. (Henry Spitzmuller, Poésie latine chrétienne du Moyen Age IIIe - XVe siècle. Textes recueillis, traduits et commentés par Henry Spitzmuller. Bruges: Desclée de Brouwer, 1971, S. 358f., Anm. 33)

Reimschema: aabxby

Der Strophenbau ist auffallend kunstvoll, und die Art des Reimeinsatzes zeigt, dass Gottschalk von Orbais „eigene Wege geht, der Zeit voraneilend“ (Guido Maria Dreves, Clemens Blume, Ein Jahrtausend Lateinischer Hymnendichtung. Erster Teil, S. 89f.).

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