Ave virgo singularis, mater
Geschrieben von: Adam von St. Viktor
Sequenzen
Adamus a Sancto-Victore († 1192)
Lateinisch:
Ave, Virgo singularis,
Mater nostri salutaris,
Quæ vocaris Stella Maris,
Stella non erratica:
Nos in hujus vitae mari
Non permitte naufragari,
Sed pro nobis salutari
Tuo semper supplica.
Sævit mare, fremunt venti,
Fluctus surgunt turbulenti,
Navis currit, sed currenti
Tot occurrunt obvia;
Hic sirenes voluptatis,
Draco, canes, cum piratis,
Mortem pene desperatis
Hæc intentant omnia.
Post abyssos, nunc ad cœlum,
Furens unda fert phaselum;
Nutat malus, fluit velum,
Nautæ cessat opera;
Contabescit in his malis
Homo noster animalis:
Tu nos, mater spiritalis,
Pereuntes libera.
Tu, perfusa cœli rore,
Castitatis salvo flore,
Novum florem novo more
Protulisti saeculo.
Verbum Patri coæquale
Corpus intrans virginale
Fit pro nobis corporale
Sub ventris umbraculo.
Te prævidit et elegit
Qui potenter cuncta regit,
Nec pudoris claustra fregit
Sacra replens viscera;
Nec pressuram, nec dolorem,
Contra primæ matris morem,
Pariendo Salvatorem
Sensisti, puerpera!
O Maria, pro tuorum
Dignitate meritorum,
Supra chores angelorum
Sublimaris unice:
Felix dies hodierna
Qua conscendis ad superna!
Pietate tu materna
Nos in imo respite.
Radix sancta, radix viva,
Flos, et vitis, et oliva,
Quam nulla vis insitiva
Juvit ut fructificet,
Lampas soli, splendor poli.
Qui splendore præes soli,
Nos assigna tuse proli,
Ne districte judicet.
In conspectu summi Regis,
Sit pusilli memor gregis
Qui transgressor datae legis
Præsumit de venia:
Judex mitis et benignus,
Judex jugi laude dignus
Reis spei dedit pignus,
Crucis factus hostia.
Jesu, sacri ventris fructus,
Nobis inter mundi fluctus
Sis via, dux, et conductus
Liber ad cœlestia:
Tene clavum, rege navem,
Tu procellam sede gravem,
Portum nobis da suavem
Pro tua clementia. Amen.
deutsch:
Heil dir, Jungfrau voll der Ehre,
Heilands Mutter, einzig hehre,
Sei gegrüßt du Stern der Meere,
Stern, der nie vom Wege irrt;
Wenn des Lebens Stürme wehen,
Hilf, daß wir nicht untergehen,
Hilf uns deinen Sohn erflehn,
Daß uns seine Gnade wird.
Wellen wüten, Stürme toben,
Fluten rollen, hoch erhoben
Unser Schifflein schaukelt oben,
Von Gefahren rings umdroht:
Hier Sirenen, Süß im Sange,
Dort Piraten, Hund und Schlange,
Alles macht uns Armen bange,
Alles rüstet unsern Tod.
Bald in Abgrunds Wellenrachen,
Bald zum Himmel rast der Nachen,
Segel flattern, Maste krachen,
Säumig ruht des Schiffers Kraft;
So bedrängt von allem Bösen,
Schwindet unser leiblich Wesen:
Geistge Mutter komm zu lösen
Unsrer Seelen Todeshaft.
Tu, von Himmels Tau begossen,
Holde Blume keusch verschlossen,
Hobst doch seltsam an zu sprossen
Blühtest neu zum Heil der Zeit:
Vaters Wort ihm gleich an Größe,
Nahm die Jungfrau zum Gefäße,
Stieg für uns zu niedrer Blöße,
Tief in Schoßes Dunkelheit.
Er, der Herrscher aller Wesen, H
at von je dich auserlesen:
Ohne deine Scham zu lösen,
Füllt' er deinen heilgen Schoß;
Ohne daß dich Schmerzen engten,
Wie sie Eva einst bedrängten,
Ohne daß dich Leiden kränkten,
Ward der Heiland in dir groß.
O Maria, deine Ehren
Deine Würde zu bewähren,
Hebt dich ob den Engelchören
Gottes Huld ins höchste Licht.
Selig drum ist dieses Tagen,
Das zum Himmel dich getragen:
Uns, die hier in Tiefen zagen,
Neig als Mutter dein Gesicht.
Heilge Wurzel, heilges Leben,
Duftge Blume, Stock voll Reben,
Ölbaum, der du Frucht gegeben
Ohne fremden Keimes Kraft:
Klarste Zone, Himmelskrone,
Leuchtend überm Sonnenthrone,
Bitt für uns bei deinem Sohne,
Eh die Strafe uns entrafft.
Hoch in Königs lichtem Prangen
Denk des Häufleins, das mit Bangen,
Tief in Schuld und Pein verfangen,
Gnadeflehend dich umschart;
Denn der Richter voll der Milde,
Wert des Ruhms der Weltgefilde,
Gab ja Hoffnung uns zum Schilde,
Da er Kreuzes Opfer ward.
Jesus, Heilgen Schoßes Blüte,
Sei in Lebens Sturmgewüte
Himmelaufwärts dem Gemüte Führer,
Weg und frei Geleit;
Lenk uns steuernd durch die Stürme,
Ebne sanft der Wogen Türme,
Gib, daß uns dein Hafen schirme,
Mild zu unserm Heil bereit.
Deutsch von Franz Wellner
"fontes"
Adam von St. Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch und Deutsch, eingeführt und übertragen von Franz Wellner, 2. Aufl. München 1955, S. 240 - 145.
Die Erstauflage des Werkes erschien 1937 in Wien. Die Lebensdaten des Übersetzers waren nicht zu eruieren. Nach Auskunft des Verlages verfügt Kösel nicht mehr über die Rechte an dem genannten Buch und kennt auch keinen Rechtsnachfolger. Wir gehen daher davon aus, daß unserer Wiedergabe hier nichts entgegensteht.
scholia / marginalia
Sequentia in assumptione Beatae Mariae Virginis
Sequenz zu Mariä Himmelfahrt
"Diese Sequenz, die in St. Viktor am Sonntag innerhalb der Oktave von Mariä Himmelfahrt gesungen wurde, ist vorwiegend von dem Bilde Mariens als des rettenden Sterns überm Meere beherrscht und malt in anschaulicher Weise die Gefahren unserer stürmischen Lebensfahrt aus.
In einem anderen Vergleich erscheint Maria als Weinstock und Ölbaum (Eccles. 24, 19 und 24, 23) wie Christus die Traube und das Öl ist (...)."
Adam von Sankt Viktor, Sämtliche Sequenzen, Lateinisch-deutsche Ausgabe. Einführung und formgetreue Übertragung von Franz Wellner, Wien 1937, S. 252f.
metrum
Die Verse der Strophe dieser Sequenz entstehen aus dem trochäischen Septenarius; der Septenarius wird nach der Cäsur aufgeteilt, und zudem wird der erste Halbvers zwei Mal wiederholt. So entsteht eine vierzeilige (Teil)Strophe, der vier gleich gebaute Verse als Gegenstrophe beigefügt werden; damit ist die Strophe nun achtzeilig. - Reimschema: aaabcccb
Franz Wellner, der Übersetzer und Herausgeber der Sequenzen von Adam von Sankt-Viktor, behandelt in seiner Ausgabe Versbau, Versformen, Reim, Strophenbau, Strophenformen und Sequenzenaufbau des Dichters eingehend; hier sind zahlreiche weiterführende und aufschlussreiche Hinweise zu finden.
Franz Wellner, der Übersetzer und Herausgeber der Sequenzen von Adam von Sankt-Viktor, behandelt in seiner Ausgabe Versbau, Versformen, Reim, Strophenbau, Strophenformen und Sequenzenaufbau des Dichters eingehend; hier sind zahlreiche weiterführende und aufschlussreiche Hinweise zu finden.