Exquiruntur omnia
Geschrieben von: Petrus Abaelardus
Petrus Abælardus (*1079 – †1142)
Lateinisch:
Exquiruntur omnia
Tormentorum genera,
Ut probetur maxima
Martyrum constantia.
Fornax aurum excoquit
Sicque purum efficit,
Vim sinapis accipit,
Dum quis eam atterit.
Exercentur ferramenta,
Damno suo parant cuncta,
Consumuntur, dum tunduntur
lapides,
Hebetantur, dum dolantur arbores,
Illis malos, isti bonos compares,
Cum affligi vides Christi milites.
Probra, carcer, vincula,
Flagella, spectacula,
Nuditas, inedia
Poenæ sunt praeludia.
Flammis, aquis, gladio,
Ungulis, equuleo
Omnique patibulo
Pugnantur in ultimo.
Sed ut pœna protendatur,
Pœnæ finis, mors differtur.
Optant mori diu torti martyres,
Sed, qui necant, mori vetant principes;
Delicatæ viris mixtæ virgines,
Ut in pœna sunt in palma comites.
Multa sunt, magna sunt
in sanctis prœlia.
Pauca vel parva sunt,
quantum ad præmia;
Cujus hæc dona sunt,
regi sit gloria.
Deutsch:
Allen Arten der Tortur
ist man suchend auf der Spur,
dass erprobt sei weit und breit
der Blutzeugen Festigkeit.
Siedeofen schmilzt das Gold,
löst's von Schlacken wie gewollt.
Senfkorn wird nur aufgelöst,
wenn's der Mörser recht zerstößt.
Foltereisen müssen kreisen,
mag sich Schaden rings entladen.
Fels mag wimmern, liegt in Trümmern,
Blitz, du packst
Stumpf und Stiel. Baum, der fiel. Axt, du hackst
hier die Guten, dort die Bösen - zum Vergleich.
Christsoldaten siehst du fallen,
Schmähung, Ketten, Kerkerhaft,
Geißelhieb, vom Volk begafft,
Hunger, der Entblößung Schmach
sind das Vorspiel, Pein folgt nach.
Feuer, Wasser, blankes Schwert,
Nagelstiche, Folterpferd,
und als Gipfel aller Qual
Todeskampf am Kreuzespfahl.
Doch dass wild die Schmerzen toben,
wird der Tod hinausgeschoben.
Möchten sterben, Christi Erben, langgequält.
Doch zu töten, gern verböten, sie, die
Herrscher dieser Welt.
Zarte Jungfraun, tapfern Männern zugesellt
wie in Qualen, so in Palmen, gleichgestellt.
Viele Kämpfe, große Leiden
sind der Heilgen Los.
Wenige sind es, kleine sind's
im Vergleich zum Lohn.
Ihm, der ihn verleiht,
Ruhm dem König aller Zeit!
Deutsch von Hansjürgen Bertram
fontes
Petri Abaelardi peripatetici palatini Hymnarius Paraclitensis sive Hymnorum libelli tres. Ad fidem codicum Bruxellensis et Calmontani. Edidit Guido Maria Dreves, S.J. Parisiis 1891 (Reprint BiblioLife), S. 217f.
Peter Abelard's Hymnarius Paraclitensis. An annotated edition with introduction by Joseph Szövérffy. I. Introduction to Peter Abelard's Hymns. Albany, N.Y. and Brookline, Mass. 1975
Peter Abelard's Hymnarius Paraclitensis. An annotated edition with introduction by Joseph Szövérffy. II. The Hymnarius Paraclitensis. Text and Notes. Albany, N.Y. and Brookline, Mass. 1975, S. 202ff.
scholia / marginalia
In festis Martyrum. In 2. Nocturno.
An Märtyrergedenktagen. Zur zweiten Nokturn
Petrus Abaelardus ist neben Anselm von Canterbury der bedeutendste, wenn auch ein umstrittener, Philosoph und Theologe des 12. Jahrhunderts.
Petrus Abaelardus war ein Aufklärer und vertrat Jahrhunderte vor René Decartes und den Aufklärern den Vorrang der Vernunft in der Diskussion philosophischer und theologischer Fragen. Dubitando enim ad inquisitionem venimus; inquirendo veritatem percipimus. (Sic et Non, 1122/23) (Durch Zweifeln gelangen wir zum Fragen; fragend erkennen wir die Wahrheit.)
Petrus Abaelardus aber war nicht nur Philosoph und Theologe, er war auch ein Dichter von Rang. Für das Kloster Paraklet, dem Heloisa vorstand, verfasste er nicht nur eine Ordensregel und Predigten, sondern auch Hymnen. Es ist das einzige Hymnar aus der Hand eines einzigen Dichters, das aus dem Mittelalter überliefert ist.
"Abälard, der Peripatetiker von Palais, der Abt von St. Gildas, der Widersacher des hl. Bernhard und der Schutzbefohlene Peters des Ehrwürdigen, ist von jeher eine der merkwürdigsten Gestalten in der Geschichte der theologisch-philosophischen Kämpfe des Mittelalters gewesen. Sein ganzes Leben ist ein ununterbrochener Roman, wie man ihn sich abwechslungs- und wirkungsreicher kaum denken kann. Was Wunder, wenn dies abenteuernde Leben wieder und wieder beschrieben wurde. (...)
Wir wollen uns vielmehr auf eine einzige literarische That Abälards, auf das von ihm verfaßte Hymnar der Abtei Paraklet beschränken. Ist doch über dem Philosophen der Dichter Abälard so gut wie vergessen worden, obgleich zu den Lebzeiten des genialen Mannes der Ruf des letzteren dem des ersteren kaum nachstand. Aber es sind die weltlichen Lieder Abälards im Strome der Zeiten verrauscht und verklungen, und seine geistlichen Lieder theilten das Schicksal der Hymnenliteratur überhaupt: es war dafür wenig Verständniß, wenig Interesse vorhanden.
Abälard war kühn und bahnbrechend in der heiligen Poesie: kühn, weil er der erste und einzige Autor ist (es könnte neben ihm nur noch der späte Santeuil in Betracht kommen), der ein gesammtes liturgisches Hymnar verfaßte; bahnbrechend, weil er sich dabei eines neuen, zum Theil sehr künstlichen Versbaues befliß, vermöge dessen er als einer jener Autoren angesehen werden muß, auf deren Schultern die ganze wundervolle Blütezeit lateinischer Rhythmendichtung steht, welche mit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts begann, das ganze 13. hindurch anhielt und nur langsam im 14. von ihrer Höhe herabsank. (...)
Daß Abälard überhaupt dichterisch thätig war und, wie das ja im frühen Mittelalter noch vielfach zu geschehen pflegte, seine Gedichte auch selbst mit Melodien versah, dafür haben wir sowohl sein eigenes als Heloise's Zeugniß. Von der Existenz eines durch Abälard verfaßten Hymnars aber gab jederzeit der kurze Widmungsbrief Nachricht, welcher sich vor dem Buche der Predigten befindet und in welchem der Verfasser Heloise mittheilt, er sende ihr, nachdem er erst unlängst auf ihre Bitten hin ein Buch Hymnen oder Sequenzen verfaßt, nunmehr eine Sammlung geistlicher Vorträge und Unterweisungen für ihr Kloster Paraklet."
Guido Maria Dreves, Der Philosoph von Palais als Hymnopoet. In: Stimmen aus Maria-Laach. Katholische Blätter. Einundvierzigster Band. Freiburg i.Br. 1891, S. 426f.
Literatur
Petri Abaelardi peripatetici palatini Hymnarius Paraclitensis sive Hymnorum libelli tres. Ad fidem Bruxellensis et Calmontani. Edidit Guido Maria Dreves, S.J. Parisiis 1891 (Reprint BiblioLife)
Peter Abelard's Hymnarius Paraclitensis. An annotated edition with introduction by Joseph Szövérffy. I. Introduction to Peter Abelard's Hymns. Albany, N.Y. and Brookline, Mass. 1975
Peter Abelard's Hymnarius Paraclitensis. An annotated edition with introduction by Joseph Szövérffy. II. The Hymnarius Paraclitensis. Text and Notes. Albany, N.Y. and Brookline, Mass. 1975
PGuido Maria Dreves, Der Philosoph von Palais als Hymnopoet. In: Stimmen aus Maria-Laach. Katholische Blätter. Einundvierzigster Band. Freiburg i.Br. 1891, S. 426 - 448
Chrysogonus Waddell, Peter Abaelard as creator of liturgical texts. - In: Rudolf Thomas (Hg.), Peter Abaelard, Person, Werk, Wirkung (Trierer Theologische Studien 38), Trier 1980
metrum
Versmaß: katalektische trochäische Tetrameter im Wechsel mit akatalektischen, durchgehend gereimt oder assonierend.
Die graphische Anordnung der Verszeilen ist in den verschiedenen Textausgaben unterschiedlich.