Sol sub nube
Gualterus de Castellione, Walter von Châtillon(* um 1135 – † um 1190)
Lateinisch:
Sol sub nube latuit,
Sed eclipsis nescius,
Cum se carni miscuit
Summi patris filius.
Maritari noluit
Verbum patris altius,
Nubere non potuit
Caro gloriosius.
Gaude, nova nupta!
Fides est et veritas,
Quod a carne deitas
Non fuit corrupta.
Qui solus æternus est
Et qui regit omnia,
Quod non erat, factus est,
Nec tamen res alia;
Illum, qui solutus est,
Stricta ligat fascia,
Iacet, qui immensus est,
Inter animalia.
Gaude, nova nupta!
Fides est et veritas,
Quod a carne deitas
Non fuit corrupta.
Solis iubar temperat
Nubes molis nescia,
Terra fructum generat
Quo dulcescunt omnia,
Cœlo terras federat
Nova data gratia,
Tollere qui venerat
Captivantis spolia.
Gaude, nova nupta!
Fides est et veritas,
Quod a carne deitas
Non fuit corrupta.
O domus, o regia,
Domus, inquam, Domini,
Domus nulli pervia
Nisi deo homini.
O mira materia
Partus data nemini,
Nulli quidem propria
Nisi uni virgini.
Gaude, nova nupta!
Fides est et veritas,
Quod a carne deitas
Non fuit corrupta.
Absque Dei numine
Sensu nullo capitur,
Quod de matre virgine
Deus homo nascitur;
Qui mentis acumine,
Loco nullo clauditur,
Ens tamen in homine
Iacet, sedet, graditur.
Gaude, nova nupta!
Fides est et veritas,
Quod a carne deitas
Non fuit corrupta.
Rubus non conburitur
Inter flammas ignium,
Nec mater transgreditur
Castitatis lilium.
Hoc non intelligitur
Ab ullo mortalium,
Nisi a quo fugitur
Babilonis medium.
Gaude, nova nupta!
Fides est et veritas,
Quod a carne deitas
Non fuit corrupta.
Ab hoc ergo medio
Fugiendum primitus
Et vero refugio
Adherendum penitus,
Ut in dei filio
Noster fiat exitus,
Ad quem nos cum gaudio
Perducat paraclitus.
Gaude, nova nupta!
Fides est et veritas,
Quod a carne deitas
Non fuit corrupta.
Deutsch:
Die Sonne war in einer Wolke verborgen,
aber sie kannte keine Finsternis,
als sich dem Fleisch verband
der Sohn des höchsten Vaters.
Er wollte nicht mit dem Wort
des Vaters vermählt werden,
vereinen konnte sich das Fleisch
nicht in herrlicherer Weise.
Freue dich, du neue Braut!
Der Glaube ist auch Wahrheit,
denn durch das Fleisch wurde
die Gottheit nicht entweiht.
Der als einziger ewig ist
Und der alles lenkt,
was er nicht war, ist er geworden,
und dennoch nichts anderes;
ihn, der ungebunden ist,
umwickelt eine straffe Windel,
er, der unermesslich ist,
liegt zwischen Tieren.
Freue dich, du neue Braut!
Der Glaube ist auch Wahrheit,
denn durch das Fleisch wurde
die Gottheit nicht entweiht.
Er sänftigt den Glanz der Sonne,
die Wolke weiß nicht von ihrer Last,
die Erde bringt Frucht hervor,
durch die sie alles lindert.
Dem Himmel verbündet er die Erde
durch die Gabe einer neuen Gnade,
er, der gekommen war, dem Seelenfänger
die Beute abzunehmen.
Freue dich, du neue Braut!
Der Glaube ist auch Wahrheit,
denn durch das Fleisch wurde
die Gottheit nicht entweiht.
O Haus, o Königsburg,
Haus des Herrn sage ich,
Haus für keinen zugänglich
außer für den Gott-Menschen.
O wunderbarer Umstand
einer Geburt, die niemandem gegeben ist,
keinem ist sie eigen,
außer einer einzigen Jungfrau.
Freue dich, du neue Braut!
Der Glaube ist auch Wahrheit,
denn durch das Fleisch wurde
die Gottheit nicht entweiht.
Ohne das Walten Gottes
begreift kein Mensch,
dass Gott als Mensch von einer
jungfräulichen Mutter geboren wurde;
wegen der Größe seines Geistes
wird er an keinem Ort ausgeschlossen,
dennoch ist er Mensch,
er liegt, sitzt, schreitet.
Freue dich, du neue Braut!
Der Glaube ist auch Wahrheit,
denn durch das Fleisch wurde
die Gottheit nicht entweiht.
Der Dornbusch verbrennt nicht
in den Flammen des Feuers,
noch verletzt die Mutter
die Lilie der Keuschheit.
Dies wird nicht verstanden,
von keinem Sterblichen,
außer von dem, der die Mitte
Babylons flieht.
Freue dich, du neue Braut!
Der Glaube ist auch Wahrheit,
denn durch das Fleisch wurde
die Gottheit nicht entweiht.
Aus dieser Mitte müssen
wir daher zuerst fliehen
und der wahren Zuflucht
ganz ergeben sein,
damit im Sohn Gottes
unser Ausgang sei,
zu dem uns der heilige Geist
mit Freude geleiten möge.
Freue dich, du neue Braut!
Der Glaube ist auch Wahrheit,
denn durch das Fleisch wurde
die Gottheit nicht entweiht.
Deutsch von René Strasser
fontes
Franz Joseph Mone, Lateinische Lieder des 12. Jahrhunderts (Schluss).- In: Anzeiger für Kunde der teutschen Vorzeit. Herausgegeben von Franz Joseph Mone. Siebenter Jahrgang, Karlsruhe 1838, S. 296f.
Guido Maria Dreves (Hg.), Cantiones et Muteti. Lieder und Motetten des Mittelalters. Erste Folge: Cantiones Natalitiae, Partheniae. Leipzig 1895, S. 40f.
Guido Maria Dreves, Clemens Blume, Ein Jahrtausend Lateinischer Hymnendichtung. Zweiter Teil. Hymnen unbekannter Verfasser. Leipzig 1909, S.24f.
Henry Spitzmuller, Poésie latine chrétienne du Moyen Age IIIe - XVe siècle. Textes recueillis, traduits et commentés par Henry Spitzmuller. Bruges: Desclée de Brouwer, 1971, S. 1364
Karl Strecker, Walter von Chatillon. Der Dichter der Lieder von St. Omer Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Litteratur, 61, 1924, S. 197 - 222
Karl Strecker, Die Gedichte Walters von Chatillon. Herausgegeben und erklärt von Karl Strecker. Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, 1925, S. 61 - 64 (Hier im Netz)
Karl Strecker, Walter von Châtillon und seine Schule. Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Wiesbaden 64 (1927), S. 97-125; S. 161-189
Walter von Chatillon – Guido Maria Dreves, Clemens Blume, Ein Jahrtausend Lateinischer Hymnendichtung. Eine Blütenlese aus den Analecta Hymnica. Erster Teil. Hymnen bekannter Verfasser. Leipzig, O.R. Reisland,1909, S. 249f.
Walter von Chatillon – Max Manitius, Geschichte der Lateinischen Literatur des Mittelalters. Dritter Teil (Band). Unter Paul Lehmanns Mitwirkung. Vom Ausbruch des Kirchenstreites bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts. München, C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 1931, S. 920 - 936
Leonard Ellinwood, The Conductus. In: The Musical Quarterly, 1941 (Vol. 27, no 2), pp. 165 - 204
Manfred F. Bukofzer, Rhythm and Meter in the Notre-Dame-Conductus. In: Bulletin of the American Musicological Society 1948, No 11/12/13, pp. 63 - 65
Jacques Handschin, Zur Frage der Conductus-Rhythmik. In: Acta Musicologica 1952 (Vol. 24, Fasc. 3/4), pp. 113 - 130
Hans Tischler, Vermaß und musikalische Rhythmus in Notre-Dame-Conductus. In: Archiv für Musikwissenschaft, 1980 (37, H. 4, S. 202 - 304
Tonaufnahmen:
Vox humana. Vokalmusik aus dem Mittelalter. EMI, 1976
Music for the Lionhearted King. Gothic Voices. Hyperion CDH 55292. Hyperion Records, 1989
Cathedrals – Vokalmusik aus der Zeit der großen Kathedralen. Voca me Christophorus. Christophorus-records, 2018
Le Chant des cathédrales, École de Notre-Dame. Ensemble Gilles Binchois. Cantus Records, 2003. Hierzu gibt es auch ein Version auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=pWrVP-yp4I0
Carmina Helvetica. Conductus und Rondelli des 12. - 14. Jahrhunderts aus Schweizer Klöstern und Bibliotheken. Ensemble Labytinthus. Edition Raumklang 2013
scholia / marginalia
Die hier im Folgenden erwähnten Ausgaben beziehen sich auf handschriftliche überlieferte Quellen.
Franz Joseph Mone Mone gibt drei Strophen wieder, Guido Maria Dreves gibt vier Strophen. Henry Spitzmuller scheint Guido Maria Dreves zu folgen, auch bei ihm finden sich dieselben vier Strophen. Bei beiden fehlt der Hinweis auf eine Handschrift mit weiteren Strophen.
Nach Guido Maria Dreves finden sich Handschriften des Cantio in Florenz, St. Gallen und Wolfenbüttel aus dem 13. Jahrhundert, eine sich in London befindliche sei späteren Datums.
Die Handschrift in Oxford wird nicht erwähnt (Oxford, Bodleian Library, Add.A44). Allein diese Handschrift enthält sieben Strophen ((Oxford, Bodleian Library, Add. A44)).
"So läßt sich kaum ausmachen, ob die drei Plusstrophen in Bo zum ursprünglichen Bestande gehören oder zugedichtet sind." Karl Strecker, Die Gedichte Walters von Chatillon. I. Die Lieder der Handschrift 351 von St. Omer. Herausgegeben und erklärt von Karl Strecker. Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, 1925, S. 63
Ob "zugedichtet" oder nicht, das ist hier unerheblich. Auch die sogenannten drei zusätzlichen Strophen zeichnen sich durch eine geglückte Wort- und Bildwahl aus und fügen sich gut in das Liedganze ein.
Franz Joseph Mone, Guido Maria Dreves und Henry Spitzmuller bezeichnen einen Anonymus als Verfasser; seit Karl Strecker kann davon ausgegangen werden, dass Walter von Châtillon (lat. Gualterus de Castellione, Walterus ab Insulis, frz. Gautier de Châtillon) um 1135 - 1190 der Verfasser dieses Liedes ist.
"Einer der bedeutendsten Dichter und zugleich Gelehrten des 12. Jahrhunderts ist Walter von Chatillon ..." "Man kann somit sagen, daß der Ruhm Walters als Lyriker weiter gedrungen ist als der des Archipoeta." Max Manitius, Geschichte der Lateinischen Literatur des Mittelalters. Dritter Teil (Band). Unter Paul Lehmanns Mitwirkung. Vom Ausbruch des Kirchenstreites bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts. München, C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 1931, S. 920 und 927
"Walter von Châtillon († um 1185) ist der vielseitigste, formal gewandteste,
klassischste und zugleich emphatischste Schriftsteller seiner Zeit. Er
schrieb Prosa und Poesie, lyrisch, satirisch, episch, baute die
erfindungsreichsten rhythmischen Strophen und die klassischsten Hexameter
des XII. Jahrhunderts. Über sein Leben ist wenig bekannt, obwohl es mehrere
Kurzbiographien über ihn aus dem XII. Jahrhundert gibt. Er stammt aus Lille,
wie er in seinem Tractatus contra Iudaeos sagt, studierte den Viten zufolge
in Paris, Reims oder Orléans, vielleicht auch in Bologna, und wurde durch
seine lateinische Lyrik eine Berühmtheit."
Walter Berschin, Einführung. In: Walter von Châtillon, Alexandreis. Das Lied
von Alexander dem Großen. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort
versehen von Gerhard Streckenbach unter Mitwirkung von Otto Klingner. Mit
einer neuen Einführung von Walter Berschin. Darmstadt, Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, 2012 (2., verbesserte Auflage)
Abgesehen von wenigen Ausnahmen, im Sinne einer Erleichterung des Verständnisses, wird darauf verzichtet, die mittellateinische Schreibweise der klassischen anzupassen (e wird nicht durch ae oder oe beziehungsweise æ oder œ ersetzt).
Strophe 1,1 Sol sub nube latuit: die Sonne war unter einer Wolke verborgen Sol (die Sonne) steht als Symbol für Christus; er ist unter einer Wolke verborgen, womit der Schoß Mariens gemeint ist.
In einigen Strophen sind auch andere Lesarten zu verzeichnen, so etwa:
Strophe 1,5 "voluit" anstelle von "noluit"
Strophe 4,1 "Egregia" anstelle von "o regia"
Strophe 4,8 "matri virgini" anstelle von "uni virgini"
Strophe 5,6 "qui loco non" anstelle von "loco nullo"
Da sich durch diese Lesarten der Sinn der Verse (abgesehen von Strophe 1,5) nicht wesentlich ändert, wird hier nicht weiter darauf eingegangen.
Strophe 6,1 rubus non conburitur inter flammas Exodus 3, 1-5, der brennende
Dornbusch, der nicht verbrennt; dieser Ausdruck steht häufig für ein
unerklärliches Wunder, hier für die jungfräuliche Empfängnis.
So findet sich etwa eine ähnliche Stelle in der Hymne "Nobilis, humilis,
Magne" (dritte Strophe), wo es heißt: "Rubus non conburitur incendio".
Strophe 6,8 Babylonis medium
Es fragt sich, ob es sich hier um eine Anspielung auf Ezechiel 17,16 (in
medio Babylonis morietur) beziehungsweise auf die Babylonische
Gefangenschaft (babylonisches Exil) handeln könnte.
Die Melodie zu diesem Gedicht des Walter von Châtillon ist als zweistimmiger Conductus (Begleitung im Diskantussatz) überliefert, und zwar im "Magnus Liber Organi de Graduali et Antiphonario pro servitio divino, XIIème siècle" (enthält über tausend geistliche Kompositionen).
Der mehrstimmige Conductus, eine Art lateinische Liedgattung, ist ein musikalisches "Genre", das in der Einflusssphäre der École de Notre-Dame entstanden ist. Es wird die Ansicht vertreten, Melodien geistlicher Lieder aus der Zeit der aufkommenden Mehrstimmigkeit in der Kirchenmusik seien vor allem im Umkreis der großen gotischen Kathedralen (École de Saint-Martial, Limoges; Sens, Beauvais) entstanden. Diese Meinung allerdings wird kontrovers diskutiert.
Von herausragender Bedeutung war die École de Notre-Dame, Paris; von den vielen überlieferten Melodien sind nur die Namen zweier Komponisten bekannt, Léonin und Pérotin. Léonin war der Wegbereiter der Mehrstimmigkeit, Pérotin gilt als bedeutendster Komponist der École de Notre-Dame.
In einem Codex (Cod. Sang. 383), der vermutlich in der Kathedrale von Lausanne entstanden ist und der heute in der Stiftsbibliothek St. Gallen aufbewahrt wird, findet sich eine Melodie, die sonst nirgends belegt ist. (Siehe Abbildungen) https://www.e-codices.unifr.ch/de/csg/0383/169/0/
Es ist nicht abwegig, die Musik der Romanik und Gotik mit der Kirchenarchitektur dieser Epochen zu vergleichen. Die Schlichtheit der einstimmigen gregorianischen Gesänge entspricht der Baukunst der Romanik mit ihren übersichtlichen Grundrissen und den harmonischen Proportionen.
Die Gestaltung der Fassaden- und Wandgliederung der gotischen Kathedralen, die die festen Konturen auflöst, das filigrane Maßwerk der Fenster, der Zauber der farbigen Glasfenster, die mit ihrer Leuchtkraft den Kirchenraum in ein mystisches Licht tauchen, sind ein Äquivalent zur virtuosen, gotischen Polyphonie
metrum
Die Strophe wird aus acht Siebensilblern gebildet, jeder bestehend aus vierfüßigen Trochäen [Trochäus (—◡)], der letzte katalektisch. Reimschema: abababab/cddc