Gaude, Maria, virgo

Notkerus Balbulus (um 840 - 912)

Lateinisch:

Gaude, Maria,
virgo dei genitrix,

Quæ promissis Gabrihelis

Spe devota credidisti.

Numine tu sancti
spiritus repleta
gignis clausa filium,

Qui mundi regit machinam.

In tuo partu
ad turrim gregis
canunt angeli.

Quippe iacente
suo rectore
in præsepio
urbis Bethlemiticæ.

Te nomen Jesu edocuit
cælestis nuntius,

Quod circumciso imponeres
intacta filio,

Qui scit solus nostra crimina

Cum patre sanctoque spiritu
rite circumcidere.

Ad tuas manus
magi tria munera deferunt,

Quæ vitam nostram
et fidei figurant regulam.

Te primum Christus
potentatus sui
instruxit dolentem gloriam:

Te primo signo
deitatis suæ
donaverat vina faciens.

Ergo precamur,
ut nostri reatus
apud clementem patrem
fias interventrix,

Qui te in terris
eius hic parentem
delegit, quem rex cæli
regem generavit.

Et te iam splendentem
in præsentia dei,
Te corde contrito,
te flagitamus,
nos, nos tuorum
ut mansorem viscerum
tueri preceris.

deutsch:

Jauchze, Maria,
Gottesmutter magetlich,

Die den Worten Gabrielis

Fromm in Hoffnung du geglaubt hast.

Von der Kraft des heilgen
Geistes überschattet
Hast als Jungfrau du den Sohn geboren,

Der die Welt regiert.

Du gebarest,
Sangen die Engel
Bei der Hürden Bau:

Lag doch ihr König
In enger Krippe
Als ein Kindlein klein
In der Stadt zu Bethlehem.

Dir hat der Engel Befehl getan,
Es solltest Jesum du das Kindlein heißen,

Unversehrte du,
An der Beschneidung Tag,

Das alleine unsrer Sünden Zahl

Samt Vater und heilgem Geiste weiß
zu beschneiden ganz und gar.

Zu deinen Handen
Gaben dreie bringen die Weisen her,

Für uns ein Zeichen.
Des sollen wir leben und glauben recht.

Dich ließ als erste,
da du klagtest, Christus
ein Zeichen erschauen seiner Macht.

Dir tat zuliebe er der Wunder erstes,
da er als Gott
Wein aus Wasser schuf.

Darum wir beten,
daß unsre Verfehlung
bei Gott dem gnädigen Vater
Du vertreten mögest,

Der dich hienieden
seinem Sohn als Mutter
erkoren, den er zeugte,
König er den König,

Und dir, die du leuchtest
vor dem Angesicht Gottes,
dir zerknirschten Herzens,
dir nahn wir betend,
auf dass du ihn uns
der in deinem Schoß gewohnt,
gnädig stimmen wollest.

Deutsch von Paul von Winterfeld (1872 - 1905)

fontes

Wolfram von den Steinen, Notker der Dichter und seine geistige Welt. Editionsband, 1948, S. 20f.
Paul von Winterfeld, Deutsche Dichter des lateinischen Mittelalters in deutschen Versen. München 1917, S. 190f.

scholia / marginalia

Sequentia in Octava Nativitatis Domini
Sequenz zum Fest der Beschneidung des Herrn und der Oktav des heiligen Weihnachtsfestes

„Der 1. Januar nun ist als Weihnachtsoktav zunächst Nachfeier, stilleres Verklingen des Christfestes, weiterhin aber auch nach Lukas (2, 21) der Tag der Beschneidung und anschließend der Benamung Jesu.“ Wolfram von den Steinen, Notker der Dichter und seine geistige Welt. Darstellungsband. Bern 1948, S. 311

Der 1. Januar war im frühen Mittelalter häufig als Marienfest gefeiert worden. Von dieser Tatsache aus sind in der Sequenz die Anspielungen auf Begebenheiten im Leben Mariens (die Verkündigung durch den Erzengel Gabriel, die jungfräuliche Geburt, Beschneidung und Benamung Jesu, die Weisen aus dem Morgenland mit den Geschenken an der Krippe, das Wunder auf der Hochzeit zu Kana) zu verstehen.

„Man darf zur Oktav die vollen Klänge einer großen Festhymne von vornherein nicht erwarten, und so geht auch von der Mutterhymne beim ersten Lesen nichts aus, was den Geist über sich selbst hinausführte und sofort sagen ließe: das ist Notkers Stimme. Aber anders wird es bei ruhigem Durchdenken. Gleich die ersten Worte sagen an, daß der Dichter, wie das Fest es dazumal forderte, das Marienmotiv der Weihnachtshymne aussingen will; und indem er die Jungfrau Mutter mit dem ‚Freue dich’ des Erzengels grüßt – den gaude ist eine gute alte Übersetzung jenes Chaire, das die Kirche sonst mit ave Maria wiedergibt –, steht er schon mitten im sinnenden Anschaun ihres übermenschlichen Du, darin er nun verharrt. Die zierlichen und doch fast gewaltsam knapppen Strofen streifen nicht dies und das, sondern folgen, wie wirs eben zeigten, ihrem innern Gesetz, ungezwungen-unbeirrbar, sie geben alle ihren Gedanken im Bilde und ihr evangelisches Begebnis als ein Klarwerden des Geistigen.“ Wolfram von den Steinen, Notker der Dichter und seine geistige Welt. Darstellungsband. Bern 1948, S. 313

metrum

Die Sequenzen zu Notkers Zeit „sind durchweg frei von den Gesetzen der Metrik, Rhythmik und des Reimes“ (Clemens Blume, Henry Marriott Bannister, Analecta hymnica medii aevi LIV. Liturgische Prosen des Übergangsstiles und der zweiten Epoche. Leipzig 1915, S. V f.), sie zeichnen sich aber aus durch einen symmetrischen Aufbau, dergestalt, dass sich immer zwei Strophen paarweise entsprechen; die unpaarigen Eingangs- und Schlussstrophen einer Sequenz dieser Epoche umrahmen die paarigen.

Weiteres zur Sequenz siehe in der Rubrik Miscellanea, Zur Sequenzendichtung.

Kontakt/ImpressumDatenschutz