Haec nox, carissimi

Autor: Petrus Abaelardus (*1079 – 1142)

Lateinisch:

Hæc nox, carissimi, nox illa flebilis,
Qua comprehenditur dies a tenebris
Piis fidelium est plena lacrimis,
Aquas immanitas compellit sceleris.

Hac nocte proditor est per se proditus,
Qui lupus fuerat permixtus ovibus,
Agnus ad victimam per lupum traditus,
Scelus antidotum fecit sceleribus.

Dum sacrum celebrat Christus mysterium,
Egressus traditor sanctum collegium
Ad pravum congregat pravos consilium,
Ut his in pretio det mundi pretium.

Tu tibi compati sic fac nos, Domine,
Tuæ participes ut simus gloriæ,
Sic præsens triduum in luctu ducere,
Ut risum tribuas paschalis gratiæ.

Deutsch:

Diese Nacht, meine Teuersten, diese bekla­gens­werte Nacht,
in der der Tag durch Finsternisse heimgesucht wird,
ist erfüllt von den Tränen der Gläubigen, die Unge-
heuerlichkeit des Verbrechens lässt die Tränen strömen.

In dieser Nacht ist der Verräter durch sich selbst verraten worden,
der Wolf hat sich unter die Schafe gemischt,
das Lamm wurde dem Wolf als Opfer ausgeliefert,
dieses Verbrechen lieferte ein Gegenmittel für unsere Vergehen.

Während Christus das heilige Opfer vollzieht,
verlässt der Verräter die heilige Gemeinschaft,
vereinigt die Böswilligen zu bösartigem Verein,
um ihnen mit dem Schandgeld das Lösegeld
der Welt zu geben.

Herr, lass uns mit dir leiden, damit wir deiner
Glorie teilhaftig werden mögen, und diese drei
Tage in Trauer verbringen, damit uns dereinst
das Lächeln der österlichen Gnade zukomme.

Deutsch von René Strasser

fontes

Petri Abaelardi peripatetici palatini Hymnarius Paraclitensis sive Hymnorum libelli tres. Ad fidem codicum Bruxellensis et Calmontani. Edidit Guido Maria Dreves, S.J. Parisiis 1891 (Reprint BiblioLife), S. 107

Peter Abelard's Hymnarius Paraclitensis. An annotated edition with introduction by Joseph Szövérffy. I. Introduction to Peter Abelard's Hymns. Albany, N.Y. and Brookline, Mass. 1975

Peter Abelard's Hymnarius Paraclitensis. An annotated edition with introduction by Joseph Szövérffy. II. The Hymnarius Paraclitensis. Text an Notes. Albany, N.Y. and Brookline, Mass. 1975, S. 105f.

scholia / marginalia

In Parasceve Domini Hymnus in primo Nocturno

Hymne für den Karfreitag zur ersten Nocturn

"Haec nox ... nox illa" (erste Strophe, Vers 1) und "hac nocte" (zweite Strophe Vers 1) sind wohl Anspielungen auf das "Exsultet iam angelica turba caelorum" (praeconium paschale oder Osterlob), in dem mit "haec nox est ..." fünf Abschnitte eingeleitet werden.

"... in pretio ... pretium" (dritte Strophe, Vers 4), kaum übersetzbares Wortspiel mit der mehrfachen Bedeutung des Wortes pretium.

Petrus Abaelardus ist neben Anselm von Canterbury der bedeutendste, wenn auch ein umstrittener, Philosoph und Theologe des 12. Jahrhunderts.

Petrus Abaelardus war ein Aufklärer und vertrat Jahrhunderte vor René Decartes und den Aufklärern den Vorrang der Vernunft in der Diskussion philosophischer und theologischer Fragen.

Dubitando enim ad inquisitionem venimus; inquirendo veritatem percipimus. (Sic et Non, 1122/23) (Durch Zweifeln gelangen wir zum Fragen; fragend erkennen wir die Wahrheit.)

Petrus Abaelardus aber war nicht nur Philosoph und Theologe, er war auch ein Dichter von Rang. Für das Kloster Paraklet, dem Heloisa vorstand, verfasste er nicht nur eine Ordensregel und Predigten, sondern auch Hymnen. Es ist das einzige Hymnar aus der Hand eines einzigen Dichters, das aus dem Mittelalter überliefert ist.

Im "Hymnarium" sollen künftig weitere Hymnen von Petrus Abaelardus vorgestellt werden.

"Abälard, der Peripatetiker von Palais, der Abt von St. Gildas, der Widersacher des hl. Bernhard und der Schutzbefohlene Peters des Ehrwürdigen, ist von jeher eine der merkwürdigsten Gestalten in der Geschichte der theologisch-philosophischen Kämpfe des Mittelalters gewesen. Sein ganzes Leben ist ein ununterbrochener Roman, wie man ihn sich abwechslungs- und wirkungsreicher kaum denken kann. Was Wunder, wenn dies abenteuernde Leben wieder und wieder beschrieben wurde. (...)

Wir wollen uns vielmehr auf eine einzige literarische That Abälards, auf das von ihm verfaßte Hymnar der Abtei Paraklet beschränken. Ist doch über dem Philosophen der Dichter Abälard so gut wie vergessen worden, obgleich zu den Lebzeiten des genialen Mannes der Ruf des letzteren dem des ersteren kaum nachstand. Aber es sind die weltlichen Lieder Abälards im Strome der Zeiten verrauscht und verklungen, und seine geistlichen Lieder theilten das Schicksal der Hymnenliteratur überhaupt: es war dafür wenig Verständniß, wenig Interesse vorhanden.

Abälard war kühn und bahnbrechend in der heiligen Poesie: kühn, weil er der erste und einzige Autor ist (es könnte neben ihm nur noch der späte Santeuil in Betracht kommen), der ein gesammtes liturgisches Hymnar verfaßte; bahnbrechend, weil er sich dabei eines neuen, zum Theil sehr künstlichen Versbaues befliß, vermöge dessen er als einer jener Autoren angesehen werden muß, auf deren Schultern die ganze wundervolle Blütezeit lateinischer Rhythmendichtung steht, welche mit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts begann, das ganze 13. hindurch anhielt und nur langsam im 14. von ihrer Höhe herabsank. (...) Daß Abälard überhaupt dichterisch thätig war und, wie das ja im frühen Mittelalter noch vielfach zu geschehen pflegte, seine Gedichte auch selbst mit Melodien versah, dafür haben wir sowohl sein eigenes als Heloise's Zeugniß. Von der Existenz eines durch Abälard verfaßten Hymnars aber gab jederzeit der kurze Widmungsbrief Nachricht, welcher sich vor dem Buche der Predigten befindet und in welchem der Verfasser Heloise mittheilt, er sende ihr, nachdem er erst unlängst auf ihre Bitten hin ein Buch Hymnen oder Sequenzen verfaßt, nunmehr eine Sammlung geistlicher Vorträge und Unterweisungen für ihr Kloster Paraklet."

Guido Maria Dreves, Der Philosoph von Palais als Hymnopoet. In: Stimmen aus Maria-Laach. Katholische Blätter. Einundvierzigster Band. Freiburg i.Br. 1891, S. 426f.

Literatur

Petri Abaelardi peripatetici palatini Hymnarius Paraclitensis sive Hymnorum libelli tres. Ad fidem Bruxellensis et Calmontani. Edidit Guido Maria Dreves, S.J. Parisiis 1891 (Reprint BiblioLife)

Peter Abelard's Hymnarius Paraclitensis. An annotated edition with introduction by Joseph Szövérffy. I. Introduction to Peter Abelard's Hymns. Albany, N.Y. and Brookline, Mass. 1975

Peter Abelard's Hymnarius Paraclitensis. An annotated edition with introduction by Joseph Szövérffy. II. The Hymnarius Paraclitensis. Text an Notes. Albany, N.Y. and Brookline, Mass. 1975

Guido Maria Dreves, Der Philosoph von Palais als Hymnopoet. In: Stimmen aus Maria-Laach. Katholische Blätter. Einundvierzigster Band. Freiburg i.Br. 1891, S. 426 - 448

Chrysogonus Waddell, Peter Abaelard as creator of liturgical texts. - In: Rudolf Thomas (Hg.), Peter Abaelard, Person, Werk, Wirkung (Trierer Theologische Studien 38), Trier 1980

metrum

durchgehend gereimt.
Die graphische Anordnung der Verszeilen ist in den verschiedenen Textausgaben unterschiedlich.

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