Ut queant laxis

Paulus Diaconus (um 720/725 – um 797/801)

Lateinisch:

Ut queant laxis resonare fibris
Mira gestorum famuli tuorum,
Solve polluti labii reatum,
Sancte Iohannes.

Nuntius celso veniens Olympo
Te patri magnum fore nasciturum,
Nomen et vitæ seriem gerendæ
Ordine promit.

Ille promissi dubius superni
Perdidit promptæ modulos loquelæ,
Sed reformasti genitus peremptæ
Organa vocis.

Ventris obstruso positus cubili
Senseras regem thalamo manentem;
Hinc parens nati meritis uterque
Abdita pandit.

Antra deserti teneris sub annis
Civium turmas fugiens petisti,
Ne levi saltem maculare vitam
Famine posses.

Præbuit hirtum tegimen camelus
Artubus sacris, strophium bidentes,
Cui latex haustum, sociata pastum
Mella locustis.

Ceteri tantum cecinere vatum
Corde præsago iubar adfuturum,
Tu quidem mundi scelus auferentem
Indice prodis.

Non fuit vasti spatium per orbis
Sanctior quisquam genitus Iohanne,
Qui nefas sæcli meruit lavantem
Tingere lymphis.

O nimis felix meritique celsi,
Nesciens labem nivei pudoris,
Præpotens martyr eremique cultor,
Maxime vatum!

Serta ter denis alios coronant
Aucta crementis, duplicata quosdam,
Trina centeno cumulata fructu
Te, sacer, ornant.

Nunc potens nostri meritis opimis
Pectoris duros lapides repelle,
Asperum planans iter et reflexos
Dirige calles.

Ut pius mundi sator et redemptor
Mentibus pulsa livione puris
Rite dignetur veniens sacratos
Ponere gressus.

Laudibus cives celebrant superni
Te, Deus simplex pariterque trine,
Supplices ac nos veniam precamur,
Parce redemptis.

Deutsch:

Daß von deinen Dienern dein Ruhm gesungen
Werde, lös’ Johannes, das Band der Zungen,
Nimm die Sünde fort aus dem schuldbedeckten
Mund, dem befleckten!

Durch den Engel, der zu der Erde Gründen
Stieg herab, dem Vater dich zu verkünden,
Ward verheißen, was sich mit dir im Leben
Werde begeben.

Dieser, zweifelnd an der Verkündigung Wahrheit,
Ward bestraft durch Mangel an Redeklarheit;
Doch die Stummheit hat sich, da du geboren
Wurdest, verloren.

Schon im Mutterschoße hast du vernommen
Deinen Herrn, noch eh’ er zur Welt gekommen,
Den das Mutterpaar in des Herzens Drange
Pries im Gesange.

Dich zurück in Höhlen der Wildnis ziehend
Hast du, früh der Menschen Gesellschaft fliehend,
Stets dein Leben bewahrt vor dem, was schlechte
Nachrede brächte.

Kleidung beut des rauhen Kamels Behaarung
Und das Lamm den Gürtel, es dient zur Nahrung
Honig samt Heuschrecken dir, auch das helle
Wasser der Quelle.

Andre Seher schaueten nur von Ferne
Ahnungsvoll nach kommendem Morgensterne;
Du jedoch hast ihn, der die Welt entsündigt,
Nahe verkündigt.

Heilger war im Raum der Welt geboren
Niemand als Johannes, der auserkoren
Wurde, den zu taufen, der uns vom Bösen
Kam zu erlösen.

Welch ein Glück ward, Herrlicher, dir gespendet!
Dir, der nie der Tugend sich abgewendet,
Müssen sich, o Wüstenbewohner, beugen
Seher und Zeugen.

Dreißigfacher Kranz wurde dem bescheret,
Jenem selbst die doppelte Zahl gewähret,
Hundertfält’ge Frucht die drei Kränze zeigen,
Welche dein eigen.

Jetzt vom Herzen wälze uns ab durch deine
Hohe Tugend, Mächt’ger, die schweren Steine,
Bahne uns die Stege und mach der Pfade
Krümmungen gerade.

Daß der Weltenschöpfer, der uns errrettet,
Uns, wenn nicht die Sünde uns mehr umkettet,
Würdig find’ zu lenken die heil’gen Schritte
In unsre Mitte.

Dich, o Gott, den loben des Himmels Chöre,
Dich, Dreifaltiger, bitten wir: o erhöre
Uns und allen, die du erlöst, verleihen
Wolle Verzeihen.

Deutsch von Lebrecht Dreves (1816 – 1870)

fontes

Guido Maria Dreves, Clemens Blume, Ein Jahrtausend Lateinischer Hymnendichtung. Erster Teil, S. 56f.
Guido Maria Dreves, Die Kirche der Lateiner in ihren Liedern. Kempten, München 1908, S. 49f. und S. 147f.

scholia / marginalia

Hymnus Sancti Johannis Baptistae, ad vesperas
Hymnus auf den heiligen Johannes den Täufer, zur Vesper

Auf der absolut erstaunlichen Website der Schoyen Collection alter Manuskripte findet sich die Abbildung eines Blattes aus dem 14. Jh. mit dem Anfang dieser Hymne.

"Wir besitzen von Paulus Diakonus abgesehen von einem 'Abendgebete' in heroischem Versmaße nur drei Hymnen. (...) Am berühmtesten ist mit Recht der Hymnus auf Johannes den Täufer geworden. In eleganten sapphischen Strophen besingt er in Versen, die von Geist und Stimmung getragen sind, den Sohn der Wüste, ohne im mindesten jene unsympathischen Gefühle auszulösen, die uns so gerne bei den innerlich unselbständigen Hymnen der sog. Humanisten beschleichen." (Guido Maria Dreves, Die Kirche der Lateiner in ihren Liedern, S. 48f.)

Diese Dichtung verdient jedoch nicht nur wegen ihrer dichterischen Qualitäten unsere Aufmerksamkeit.

Der Benediktinermönche Guido von Arezzo (um 992 - 1050), der Vater der Solmisation, einer "Verfahrensweise, die Tonstufen eines Gesanges auf bestimmte Silben zu singen", hat "den sechs Tonstufen des mittelalterlichen Hexachordes sechs Tonsilben" zugeordnet und die Bezeichnung der Tonsilben aus der ersten Strophe des lateinischen Johannes-Hymnus von Paulus Diaconus gewonnen, und zwar benützte er dazu die erste Silbe des ersten Wortes in jedem Halbvers:

Ut queant laxis resonare fibris 
Mira gestorum famuli tuorum, 
Solve polluti labii reatum, 
Sancte Iohannes.

Das ergibt die Tonreihe: ut (= do), re, mi, fa, sol, la. Die letzte Bezeichnung (si) ist viel später vermutlich aus den Initialen der Wörter Sancte Iohannes, mit denen die erste Strophe schließt, gewonnen worden. (vgl. Wikipedia, Solmisation).

metrum

Versmaß: sapphische Strophen

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