Dormi, Fili, dormi

Anonymus

Lateinisch:

Dormi, Fili, dormi! Mater
Cantat unigenito;
Dormi, puer, dormi! Pater
Nato clamat parvulo.
Millies tibi laudes canimus,
Mille, mille, millies.

Quidquid optes, volo dare,
Dormi, parve pupule!
Dormi, Fili, dormi, caræ
Matris deliciole!
Millies tibi laudes canimus,
Mille, mille, millies.

Lectum stravi tibi soli,
Dormi, Nate bellule!
Stravi lectum fœno molli,
Dormi, mi animule!
Millies tibi laudes canimus,
Mille, mille, millies.

Ne quid desit, sternam rosis,
Sternam fœnum violis,
Pavimentum hyacinthis
Et præsæpe liliis.
Millies tibi laudes canimus,
Mille, mille, millies.

Si vis musicam, pastores
Convocabo protinus:
Illis nulli sunt priores,
Nemo canit castius.
Millies tibi laudes canimus,
Mille, mille, millies.

Deutsch:

Schlaf, mein Kind! Die Mutter singet
Ihrem eingebornen Sohn,
Und dem holden Knaben klinget
Hell des Vaters Liederton.
Tausend Lieder singen wir,
Viele tausend, tausend dir.

Was du wünschest, will ich geben,
Schließe, Knab’, die Äuglein zu,
Schlummre, deiner Mutter Leben,
Deiner Mutter Lust bist du!
Tausend Lieder singen wir,
Viele tausend, tausend dir.

Hab’ dein Bettlein dir bereitet,
Schlaf, mein Knäblein, hold und fein,
Weiches Heu drauf ausgebreitet,
Drum, lieb Seelchen, schlummre ein!
Tausend Lieder singen wir,
Viele tausend, tausend dir.

Nichts soll fehlen! Schau, wie viele
Rosen ich und Veilchen streu’
Hyazinthen auf die Diele,
Lilien auf der Krippe Heu!
Tausend Lieder singen wir,
Viele tausend, tausend dir.

Willst du hören andre Klänge,
Ruf’ die Hirten ich herbei:
Niemand weiß ich, der dir sänge
Zartre Lieder zur Schalmei.
Tausend Lieder singen wir,
Viele tausend, tausend dir.

Deutsch von Lebrecht Dreves (1816 – 1870)

fontes

O. Hellinghaus, Hundert lateinische Marienhymnen mit den Nachbildungen deutscher Dichter, einer Einleitung und kurzen Anmerkungen, S. 236ff.

scholia / marginalia

Mit „des Vaters“ in der vierten Zeile der ersten Strophe ist der heilige Joseph gemeint.

Ein Kind erblickt das Licht der Welt, Mutter und Vater beugen sich erleichtert und glücklich über das Neugeborene. Warum sollte das damals im Stall von Bethlehem anders gewesen sein als sonst überall auf der ganzen Welt. Dieses Wunder der Menschwerdung und der Mutterliebe feiert der Dichter dieses ‚Liedes’ in schlichten, zarten und anrührenden Versen.

metrum

Versmaß: Das Lied besteht aus sechszeiligen Strophen, von denen die letzten beiden den Refrain bilden. In den ersten vier Versen wechseln aktatalektische mit katalektischen vierhebigen Trochäen. Reim kommt nur gelegentlich vor, häufiger sind Assonanzen und reimähnliche Anklänge.

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